EMV ist für viele ein leidiges Thema. Oft steht sie als letzte Instanz vor der finalen Markteinführung eines Produkts. Wo drückt der Schuh aktuell am stärksten? Welche Herausforderungen kommen auf die Kunden zu? Antworten gibt Adrian Stirn, Technical Lead EMC-Laboratory, Würth Elektronik eiSos.
Markt&Technik: Herr Stirn, was sind aktuell die brennendsten Themen, die meistgestellten Fragen Ihrer Kunden?
Adrian Stirn: Die Kunden benötigen vor allem Unterstützung beim Anwenden gängiger Design-Regeln und ein besseres Verständnis dafür, welche Verbesserungen das richtige Design hinsichtlich Emission und Störfestigkeit bringt. Der Aha-Effekt kommt dann meist im EMV-Labor. Ein typisches Beispiel ist, dass ein Entkoppelkondensator vergessen wurde, und nach dem Einbau des Kondensators die Performance auf einmal wesentlich besser geworden ist. Das weckt das Interesse, und Kunden erkennen, wie sie mit minimalen Mitteln und richtigem Design eine bessere EMV-Performance erreichen können. Sie suchen schließlich nach Reference-Designs, die von Herstellern bereits EMV-evaluiert sind und einen Leitfaden zur Integration in eigene Applikationen enthalten. Sind die Design-Regeln aus EMV-Sicht umgesetzt, können auch die verwendeten Filterkomponenten ihre Wirkung voll entfalten.
Was hat sich in der EMV-Normung verändert, das die Kunden vor Herausforderungen stellen könnte?
Es gibt ein neues Dokument in der Normung: CIS/H/459/CDV, ein neues Amendment für die 61000-6-3. Hier werden Grenzwerte für den Frequenzbereich 9 kHz bis 150 kHz genannt, der bisher nur im Leuchtenbereich mit einem Grenzwert limitiert war. Die Norm 6-3 gibt nach IEC Guide 107 auch die Anforderungen an Produktnormen vor. Man kann also davon ausgehen, dass dieser Frequenzbereich kurz- bis mittelfristig unter EMV-Aspekten beachtet werden muss. Daher ist es sinnvoll, diese Anforderungen schon heute zu beachten, vor allem bei Produkten mit langem Lebenszyklus. So spart man sich spätere Redesigns. Außerdem wird mit dem Dokument 77B/884/CDV:2024-02 eine neue Basisnorm 61000-4-41 zur Störfestigkeit gegen Breitbandsignale diskutiert. Das betrifft die Störfestigkeit von Geräten, beispielsweise gegen 5G-Emissionen.
Gibt es technologische Entwicklungen, die besondere, vielleicht auch ganz neue Herausforderung an die EMV stellen? Und für die es vielleicht gerade jetzt eine neuartige Lösung gibt?
Der Wandel hin zur All-Electric-Society erfordert natürlich noch mehr Elektronik im Bereich der Energieerzeugung und Speicherung, aber auch beim Energieverbraucher. Getaktete Schaltkreise bringen immer auch EMV-Herausforderungen mit sich. Vor allem im Bereich dezentrale Energieversorgung, Stromspeicher, Balkonkraftwerke und Inverter sowie Motor Drive Systems wird die EMV eine entscheidende Rolle spielen. Diese Systeme mit hoher Emission müssen zusammen mit sensitiven Funkanlagen funktionieren, teilweise im selben Gerät, aber mindestens in derselben Anlage oder im selben Gebäude. Denn moderne Systeme sind meist vernetzt und benötigen oft sogar eine Internetverbindung. Das generiert weitere Anforderungen an die Sicherheit: regulatorische Anforderungen wie Cybersecurity requirements (RED) und der aktuell diskutierte Cyber Resilience Act.
Auf die Zukunft betrachtet – auf welche Trends und Tendenzen müssen sich die Kunden jetzt bereits einstellen und Lösungen dafür suchen, um gewappnet zu sein?
Die wichtigsten Trends sind: leitungsgeführte Emission im niedrigen Frequenzbereich von 9 kHz bis 150 kHz, der Schutz der Funksysteme und ausreichend freie Bänder für die zukünftig benötigten Applikationen, Smart Grids und die „intelligent“ angeschlossenen Geräten sowie die Sicherheit dieser Infrastruktur.
Abschließend: Für welche Lösungen interessieren sich Ihre Kunden derzeit am meisten?
Produkte werden zunehmend aus vorgefertigten, integrierten Komponenten oder Referenz-Designs aufgebaut. Die Hersteller erhoffen sich dadurch eine kürzere Entwicklungszeit, weil ja prinzipiell alles funktionieren müsste. Aber das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile. Oft werden die EMV-Anforderungen erst zum Schluss festgelegt und geprüft. Dann stellt man mitunter fest, dass die EMV-Anforderungen doch nicht eingehalten sind. Folglich werden entwicklungsbegleitende EMV-Prüfungen benötigt, um das Produkt nachträglich anzupassen. Unser Ziel ist es, Kunden das nötige Know-how mitzugeben, damit sie beim nächsten Projekt einen effektiveren Weg einschlagen können – und damit viel Zeit und Kosten sparen. Denn wird die EMV schon beim Projektstart beachtet, ist der Aufwand in der Regel gering.
Die Fragen stellte Nicole Wörner.