Im Mai hat das EU-Parlament das EU-Lieferkettengesetz finalisiert. 20 Tage nach der Veröffentlichung tritt die Richtlinie in Kraft. Sie sieht vor, dass betroffene Einzelpersonen Unternehmen zivilrechtlich auf Schadensersatz verklagen können.
Rechtsanwalt Philip Kärcher ordnet die Situation ein. Er ist Partner und Leiter des Frankfurter Büros der internationalen Kanzlei Watson Farley & Williams.
Markt&Technik: Herr Kärcher, wie bewerten Sie die Verabschiedung der EU-Richtlinie zum Lieferkettengesetz durch die Mitgliedsstaaten und deren potenzielle Auswirkungen auf Unternehmen in Deutschland?
Philip Kärcher: Als es im Februar so aussah, als ob diese Richtlinie in Brüssel scheitern würde, war in der Wirtschaft einerseits eine gewisse Erleichterung zu spüren. Grund war die Sorge, dass in der Folge das deutsche Lieferkettengesetz weiter verschärft würde. Andererseits gibt es durchaus auch den Wunsch, innerhalb der EU gleiche Regeln für alle zu schaffen.
Nun wird die Richtlinie in abgeschwächter Form wohl kommen; jedenfalls bestehen an der noch ausstehenden Zustimmung des Parlaments im Mai kaum Zweifel. Die wirklich spannende Frage wird sein, wie der deutsche Gesetzgeber die EU-Vorgaben in nationales Recht umsetzt und ob er möglicherweise noch darüber hinausgeht.
Welche Bedeutung hat die geplante Überwachungspflicht der gesamten Lieferketten im Rahmen des Lieferkettengesetzes für deutsche Unternehmen?
Die Überwachungspflicht ist sehr ambitioniert und zweifellos noch umfangreicher als die Vorgaben des bestehenden deutschen Lieferkettengesetzes. Dementsprechend konzentriert sich die Diskussion aktuell darauf, ob und wie Unternehmen diesen Ansprüchen überhaupt gerecht werden können. Diese Fragen sind zweifellos von zentraler Bedeutung. Allerdings geraten bei dieser Fokussierung andere Aspekte der Richtlinie, die ebenfalls erhebliche Auswirkungen haben können, leicht aus dem Blick.
Worauf beziehen Sie sich konkret?
Neben dem umfangreichen Pflichtenkatalog findet sich in der Richtlinie ein Passus, der erhebliche juristische Sprengkraft birgt. Danach sollen einzelne Betroffene von Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden künftig vor den Zivilgerichten der Mitgliedsstaaten auf Schadensersatz klagen können.
Was ist daran so kritisch?
Nun, geschädigte Personen können nicht nur individuell klagen oder sich der Sammelklage beispielsweise einer NGO oder Gewerkschaft anschließen, sondern auch mit einem Unternehmen zusammenarbeiten, das sich darauf spezialisiert hat, Prozesse zu finanzieren. Solche Gesellschaften, die sich im Gegenzug einen Anteil an der möglicherweise erstrittenen Schadensersatzsumme zusagen lassen, treten in Deutschland immer häufiger auf.
Das ist ein profitables und völlig legales Geschäftsmodell. Deshalb dürfte es nach Überführung der Richtlinie in deutsches Recht nur eine Frage der Zeit sein, bis eine entsprechende Klagewelle gegen Unternehmen losbricht.
Wie beurteilen Sie die steigende Zahl solcher Unternehmen und deren potenzielle Auswirkungen auf die deutsche Rechtssystematik?
Rechtsstreitigkeiten können sich lange hinziehen und erhebliche Kosten insbesondere für die Rechtsverteidigung oder Gutachten verursachen. Ein Unternehmen, das diese Kosten vorfinanziert und sich möglicherweise am Risiko beteiligt, erleichtert es einem Geschädigten, sein Recht durchzusetzen.
Viele kennen das von Sammelklagen aus den USA, wo teils spektakuläre Strafzahlungen erstritten werden, die dann allen Beteiligten zugutekommen. Allerdings kennt das deutsche Recht diesen sogenannten strafenden Schadenersatz nicht, und auch die EU-Richtlinie schließt das explizit aus. Deshalb ist hierzulande immer zu fragen, welcher konkrete Schaden dem Betroffenen im Einzelfall entstanden ist. Bei einer erfolgreichen Klage gibt der Geschädigte im Gegenzug für die Prozessfinanzierung einen Teil der erstrittenen Zahlung an das Unternehmen ab.
Dass sich Firmen zunehmend in diesem lukrativen Markt engagieren, hat – wie so vieles – zwei Seiten. Einerseits können mehr Geschädigte, für die andernfalls das Kostenrisiko eines Gerichtsprozesses zu hoch wäre, ihre Ansprüche geltend machen. Andererseits bieten die Gewinnaussichten für diese Unternehmen natürlich Anreize, möglichst viele aussichtsreiche Verfahren aktiv anzustoßen.
Inwiefern könnte die Erfahrung des VW-Dieselskandals die Haltung von Unternehmen gegenüber potenziellen Sammelklagen beeinflussen?
Der Dieselskandal hat unter anderem demonstriert, dass sich durch eine Vielzahl an Klägern sehr hohe Klagesummen erstreiten lassen und deshalb eine solche Bündelung sehr lukrativ sein kann. Daraus könnte sozusagen der Gerichtsprozess als Geschäftsfeld entstehen. Umso wichtiger ist es für Unternehmen, im Kontext der Lieferkettenrichtlinie saubere und robuste Compliance-Prozesse aufzusetzen, um entsprechenden Attacken keine offene Flanke zu bieten.
Wie schätzen Sie die möglichen finanziellen Risiken für Unternehmen ein, die sich aus der Umsetzung der EU-Richtlinie ergeben könnten?
Das muss man von Unternehmen zu Unternehmen individuell bestimmen. Die Risiken hängen natürlich maßgeblich davon ab, was ein Unternehmen herstellt, welche Rohstoffe es bezieht und wie gut es die künftigen Anforderungen antizipiert und entsprechende Maßnahmen umsetzt.
Welche Veränderungen müssen Unternehmen vornehmen, um den Anforderungen der Corporate Sustainability Due Diligence Directive gerecht zu werden, insbesondere in Bezug auf Haftungsfragen, Compliance und ESG-Themen? CSDDD ist übrigens der englische Begriff für die Richtlinie.
Gemäß der Richtlinie kommt ein Unternehmen seinen Sorgfaltspflichten in sechs Schritten nach, die sich an den OECD-Leitlinien für die Sorgfaltspflicht bei verantwortungsvollem Geschäftsgebaren orientieren. Dazu gehören im Einzelnen die Integration der Sorgfaltspflichten in die Unternehmenspolitik und die Managementsysteme, die Identifizierung und Bewertung nachteiliger Menschenrechts- und Umweltauswirkungen, die Verhinderung, Beendigung oder Minimierung tatsächlicher und potenzieller nachteiliger Menschenrechts- und Umweltauswirkungen, eine Bewertung der Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen, begleitende Kommunikation und schließlich die Bereitstellung von Abhilfemaßnahmen.
Welche Rolle spielt das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle – kurz: BAFA – in Bezug auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und wie könnte sich dessen Vorgehen in Zukunft verändern?
Das BAFA ist derzeit für die Einhaltung des deutschen Lieferkettengesetzes verantwortlich. Es verfügt über erhebliche Sanktionsmöglichkeiten wie beispielsweise erhebliche Bußgelder oder den zeitweiligen Ausschluss einzelner Unternehmen von öffentlichen Ausschreibungen. Allerdings hat die Behörde bisher mit viel Augenmaß agiert.
Es ist mit Spannung zu erwarten, ob die umfangreichen Pflichten, die die EU-Richtlinie Unternehmen auferlegt, nach der Umsetzung in deutsches Recht weiterhin im Rahmen der Kontrolle durch das BAFA oder eher im Rahmen der zivilrechtlichen Unternehmenshaftung konkretisiert werden.
Wie können Unternehmen sich am besten auf die erweiterten Haftungsmaßstäbe und die verlängerte Frist für Klagen gemäß der EU-Richtlinie vorbereiten?
Zunächst einmal vielleicht der Hinweis, dass nicht alle Unternehmen unter die Regelungen der neuen Richtlinie fallen werden. Unmittelbar betroffen sind ab 2027 zunächst nur Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitern und einem weltweiten Konzernumsatz von über 1,5 Milliarden Euro. Ab 2028 sinken diese Schwellen auf 3000 Mitarbeiter und 900 Mio. Euro und dann ab 2029 nochmals auf 1000 Mitarbeiter und 450 Millionen Euro – dies alles unter der Annahme, dass der deutsche Gesetzgeber hier nicht über die Vorgaben der EU-Richtlinie hinausgehen wird.
Unternehmen der entsprechenden Größenordnung stehen meiner Ansicht nach vor zwei zentralen Herausforderungen: Sie müssen im ersten Schritt ihre Prozesse anpassen und anschließend definieren, wie sie die Einhaltung der Vorgaben im Geschäftsalltag dokumentieren und nachweisen.
Das bedeutet zum Beispiel, Zuständigkeiten und Berichtslinien zu definieren, möglicherweise personelle Anpassungen vorzunehmen und natürlich Prozesse zu installieren, mit denen sich das Handeln der eigenen Zulieferer überprüfen und dokumentieren lässt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Zertifizierungsunternehmen hier entsprechende Nachweise anbieten werden.
All dies erfordert Zeit und Ressourcen, sodass man die verbleibenden zwei Jahre bis zur Umsetzung effektiv nutzen sollte. Dazu gehört aus meiner Sicht auch eine umfassende Beratung, um die zwingend notwendige Compliance herzustellen und mögliche Angriffsflächen zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren.