ELIV 2019

Mutig oder naiv?

13. November 2019, 14:20 Uhr | Iris Stroh
© Bilder: VDI Wissensforum

Auf der diesjährigen ELIV in Bonn betont Dr. Uwe Michael, Bereichsleiter Elektrik/Elektronik (2001 bis 2019) bei Porsche und Kongressleiter ELIV, bereits in seiner Eröffnungsrede, dass die Software im Automobilmarkt einen „Game Changer“ darstellt.

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Software ist aus Sicht von Michael der entscheidende Erfolgsfaktor für die Automobilindustrie im Transformationsprozess. Wobei er unter Software ein ganzes Sammelsurium von Begrifflichkeiten zusammenfasst, angefangen bei Embedded Software und OTA-Updates, über KI und Cyber-Security bis hin zu Big Data/Cloud-Computing, Connected Car/IoT und Blockchain. Auch andere OEMs sind von der Wichtigkeit der Software in den von Michael genannten Ausprägungen überzeugt. So betont beispielsweise auch Dr. Siegmar Haasis, CIO R&D Mercedes-Benz Cars, in seinem Vortrag die Wichtigkeit der Software, gerade wenn es um „Connected Cars“ geht. Da geht es nur um »Software, Software, Software.« Er ist überzeugt, dass langfristig 30 Prozent der Hardware durch Software ersetzt wird, »wodurch wir um zwölf Monate schneller in der Entwicklung werden. Wir sollten Hardware nur da aufbauen, wo sie wirklich hilft«, so Dr. Haasis weiter. Allerdings merkt er auch an, dass die Hersteller sich überlegen müssen, wie sie die Komplexität der Software beherrschen können.

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Dr. Uwe Michael, Porsche (bis 2019) »Die Zukunft der Mobilität, das hochautomatisierte Fahren als nächste Stufe und die Weiterentwicklung zur „perfekten Vernetzung“ können ohnehin nur mit Software realisiert werden.«
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Dr. Christoph Grote, Senior Vice President Electronics bei BMW Group, wiederum betont einen anderen Aspekt der Software: die Daten. Seit langer Zeit wird darüber diskutiert, wem die Daten, die ein Fahrzeug generiert, gehören. Der ADAC hat beispielsweise im letzten Jahr gefordert, dass der Autofahrer Kontrolle über die Daten haben soll und dass der Datentransfer transparent ist – und das EU-weit. Der VDA hatte Ende 2017 ein Positionspapier vorgelegt, in dem vier Datenkategorien aufgeführt werden, angefangen bei Daten für die Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit, die ausgetauscht werden (Kategorie 1), bis hin zu persönlichen Daten (Kategorie 4), die nur den Parteien zur Verfügung gestellt werden, die hierfür die Zustimmung des Kunden erhalten haben. Grote betont: »Wir werden mit den Daten der Kunden kein Geld verdienen, das ist nicht unser Geschäftsmodell.«

Er ist aber auch überzeugt, dass eine Monopolisierung der Daten durch den OEM der falsche Weg ist. Das wollten die Kunden nicht, deshalb sei es wichtig, dass die Daten auch an Drittunternehmen weitergegeben werden können. Er macht den Ansatz an einem Beispiel deutlich: Ein BMW schickt seine Fahrzeugdaten an das BMW-Back-End oder einen neutralen Server. Vorausgesetzt der Fahrer stimmt zu, können beispielsweise Versicherungen die Daten abrufen und den Versicherungstarif an das Fahrverhalten der Fahrer anpassen. Grote hält das Nevada-Konzept (Nevada: Neutral Extended Vehicle for Ad­vanced Data Access) für einen guten Ansatz, fordert die Industrie aber gleichzeitig auf, noch weitere Schritte zu gehen. Beispielsweise sollte sich die Industrie auf eine Architektur einigen. Auch wenn es um virtuelle Validierung geht, sollte sich die Industrie überlegen, ob sie nicht zusammenarbeitet und ihre Daten teilt. Denn von den geforderten 240 Mio. Testkilometer für autonome Fahrfunktionen laufen 95 Prozent im Rechner ab, das könne keine Testflotte mehr leisten. Grote: »Man könnte den einen oder anderen Algorithmus ebenfalls weitergeben, auch darüber sollte nachgedacht werden.«

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Dr. Peter Steiner, Audi Electronics Venture »Die Entwicklung und Bereitstellung von innovativen Software-Funktionen wird von den Kunden immer mehr gewünscht und ist dadurch ein zentrales Verkaufsargument für die Automobilhersteller.«
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Investitionen in Höhe von zig Mrd. Euro erforderlich

Auch die während der ELIV stattfindende Pressekonferenz stand unter dem Motto „Software als Game Changer: Warum KI, Cyber-Security und autonome Systeme im Fahrzeug sowie neue Business-Modelle die Branche nachhaltig verändern“. Neben Michael bezogen auch Dr. Peter Steiner, Geschäftsführer von Audi Elec­tronics Venture, Helmut Matschi, Mitglied des Vorstands Division Interio, von Continental, und Prof. Dr.-Ing. Lutz Eckstein, Direktor des Instituts für Kraftfahrzeuge (ika) der RWTH Aachen und Vorsitzender des Beirats von fka und der VDI-Gesellschaft Fahrzeug und Verkehrstechnik (VDI-FVT), dazu Stellung. Auch hier betonte Michael die Wertigkeit der Software, jede SW-Zeile würde rund 10 Dollar bei der Erzeugung kosten, dann wird schnell klar, was 100 Mio. Zeilen Code darstellen: Einen »Wahnsinnswert«, so Michael. Dementsprechend seien neue Geschäftsmodelle notwendig, die auch den Verkauf von Software als Produkt einbeziehen.

Grundsätzlich laufe in der Automobilindustrie ein aufwändiger Transformationsprozess zu klimafreundlichen, automatisierten und vernetzten Fahrzeugkonzepten ab. Standardaufgaben wie Anzeigen oder Lichtfunktionen seien längst digitalisiert, aber auch eine Effizienzsteigerung sei »erst mit leistungsfähigen Fahrzeugrechnern und durch hochentwickelte Software möglich«, so Michael weiter. Software werde aber auch zur Qualitätssicherung (Simulation) oder in der Produktentwicklung (digitaler Prototyp) eingesetzt. Daneben gewinne auch das Back-End bzw. die Cloud an Bedeutung, da dorthin Funktionen und Dienste wandern. Michael mahnt: »Damit das Gesamtkonstrukt in Zukunft funktioniert, ist eine durchgängige Architektur vom Fahrzeug bis zum Back-End notwendig. Idealerweise in einer offenen Software-Architektur, die Wiederverwendung und Einbindung von Drittanbietern garantiert, die auf standardisierte Schnittstellen, kurz APIs, aufbaut und die der Kraut- und Rüben-Software Einhalt gebietet.«

Matschi sieht in einer Server-basierten E/E-Architektur die Basis für das automatisierte, voll vernetzte und selbstlernende Fahrzeug, plus Plattformen, die im Fahrzeug die erforderliche Rechenleistung für KI bereitstellen. Matschi: »Entscheidend in der Umsetzung sind allerdings die Beherrschung der Softwareanforderungen, der Umgang mit hochkomplexen Projekten und die Zusammenarbeit der beteiligten Unternehmen.« Dazu müsse die Automobilindustrie umdenken. Bisherige Entwicklungsmethoden passen nicht mehr, sie werden der Komplexität und Größe der Projekte nicht mehr gerecht. Continental setzt deshalb beispielsweise bei seinem Cockpit-Computer (Integrated Interior Platform) auf agile Methodiken. Matschi: »Heute arbeiten daran rund 20 Teams an vier Standorten in Europa und Asien. Es laufen etwa 70.000 automatisierte Tests pro Woche. Im gleichen Zeitraum erzeugen die Entwickler 250 Software-Baselines.« Selbst die Freigabebedingungen seien bei der Entwicklung automatisiert. Matschi: »Nur so wird es möglich, bei einem derart großen Projekt flexibel auf sich ändernde Anforderungen zu reagieren und die Entwicklungszyklen zu verkürzen.«

Was auf Plattformebene funktioniert, sollte auch in der Serienentwicklung genutzt werden, auch über Firmengrenzen hinweg. »Denn ein High-Performance-Computer wird nicht von einem Unternehmen allein geschaffen. Agilität muss in der Industrie zum Standard werden«, so Matschi. Zusammenarbeit ist aus seiner Sicht aber auch aus einem anderen Grund notwendig: aufgrund der Fahrzeugvernetzung. Heute mache jeder OEM sein eigenes Ding, die Automobilindustrie müsse aber neue Wege der Zusammenarbeit untereinander und mit weiteren Industrien finden. »Partnerschaftliche Methoden müssen weiter forciert werden und Geschäftsmodelle müssen sich den Anforderungen in vernetzten Industrien anpassen«, betont Matschi.

Eckstein beurteilt die Software ähnlich wie seine Mitstreiter, betont aber zwei andere Punkte: Die dafür notwendigen sehr hohen Investitionen von vielen Mrd. Euro pro OEM und dass die heutige Straßenverkehrsordnung für die Mobilität mit automatisierten Fahrzeugen nicht ausreiche. Also seien neue Spielregeln und aufgrund der hohen Investitionen weltweit stabile Standards und Kooperationen notwendig.

Und Dr. Steiner beschreibt die Software als ungeheure Gewalt, die auf die Automobilindustrie zukomme, die Industrie brauche eine Software-Strategie und müsse sehr genau ihre Partner auswählen. »Durch eine einheitliche Softwareplattform über die gesamte Fahrzeugpalette hinweg können Kostenpotenziale gehoben werden und gleichzeitig leichter innovative Softwarepakete dem Endkunden angeboten werden«, so Steiner. Außerdem hält er „Cloud first!“ für entscheidend, sprich: die Softwarearchitekturen müssten aus einem Cloudansatz heraus entwickelt werden.


  1. Mutig oder naiv?
  2. Software und Daten ebenfalls enorm wichtig

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