Die Automobilbranche befindet sich in der Transformation zum softwaredefinierten Fahrzeug. KI-gesteuerte Technologien erweisen sich als unschätzbar wertvolle Werkzeuge, um mit den raschen Veränderungen Schritt zu halten – zum Beispiel bei der Optimierung des elektrifizieren Antriebsstrangs.
Der Digitalisierungsprozess hin zum softwaredefinierten Fahrzeug verwandelt das Auto von einem reinen Transportmittel in ein Stück Hochtechnologie mit Millionen Codezeilen. Die Software bestimmt damit zunehmend den Charakter eines Fahrzeugs.
Die sich steigernde Komplexität bringt jedoch auch eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Da die Softwarearchitektur einen solch wichtigen Stellenwert einnimmt, muss sich die Automobilindustrie mit Fragen der Sicherheit, der Interoperabilität und der Integration verschiedenster Systeme auseinandersetzen. Der Bedarf an robusten Softwarearchitekturen, die in der Lage sind, diese Komplexität zu bewältigen und gleichzeitig Sicherheit und Zuverlässigkeit zu gewährleisten, war noch nie so groß. Das Zeitalter der softwaredefinierten Fahrzeuge bietet jedoch auch eine große Chance zur Prozessoptimierung bezüglich der Entwicklung, Herstellung und Haltbarkeit zukünftiger Fahrzeuggenerationen.
Bei der Auseinandersetzung mit diesen Chancen und Herausforderungen, der Erforschung der Auswirkungen der digitalen Revolution und der Bewältigung ihrer Komplexität hilft künstliche Intelligenz, die Digitalisierung effizienter zu gestalten.
Durch KI unterstützte Simulationsläufe von Antriebskomponenten ermöglichen ein enormes Optimierungspotenzial bei der Entwicklung von Elektrofahrzeugplattformen. Ein eDrive-System umfasst den Wechselrichter sowie Software, Motor, Getriebe und die Aktoren. Alle Komponenten sind auf die bevorzugten Fahrzeuganforderungen des Kunden zugeschnitten.
Um das optimale Set-up zu finden, wird ein simulationsgestützter dreiteiliger Ansatz angewandt. Zunächst wird die Ausgangssituation sowie die Systemanforderung betrachtet. Im zweiten Schritt werden die einzelnen Systemkomponenten je nach Anforderung ausgewählt und im dritten und letzten Schritt erfolgt die Optimierung und Abstimmung.
Im ersten Teil des Spezifikationsprozesses werden Lastenhefte mit detaillierten Kundenanforderungen erstellt. Diese beinhalten Aspekte der Gesamtleistungsfähigkeit wie beispielsweise Leistung, Höchstgeschwindigkeit und Drehmoment. Zusätzliche wichtige Variablen sind technische Umsetzbarkeit, Kosten, Gewicht, Baugröße, Effizienz und die Wiederverwendbarkeit von Komponenten sowie die Wartungsfreundlichkeit. Diese Anforderungen werden mithilfe eines KI-Algorithmus kategorisiert und anschließend auf die für die Systemoptimierung notwendigen Parameter reduziert.
Im nächsten Schritt wird die eDrive-Plattform auf Systemebene anhand der Optimierungskriterien simuliert. Jede Produktvariante – zum Beispiel die zahlreichen verfügbaren Wechselrichter – wird durch ein eigenes Modell und Simulationsparameter definiert.Die mittlere Modellierungsebene ist ein digitaler Zwilling, der das gesamte eDrive-System mit einem hohen De- tailgrad betrachtet. Die Parameter für diesen digitalen Zwilling werden auf der Grundlage der Ergebnisse der vorherigen Modellierungsebene festgelegt. Der digitale Zwilling wird nicht nur zur Validierung der Komponentenauswahl verwendet, sondern lässt sich auch für die Funktionsentwicklung und die Systemsteuerungsstrategien nutzen.
Die höchste und letzte Stufe der Modellierung umfasst spezifische eindimensionale, dreidimensionale und die sogenannte Finite-Element-Methodik (FEM), die beispielsweise das Struktur- oder Flüssigkeitsverhalten, den Wärmetransport und die Wellenausbreitung untersucht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Optimierung von Teilsystemen wie dem E-Motor, in dem zum Beispiel die vorhergesagte Wellenausbreitung sowie das NVH-Verhalten (Noise, Vibration, Harshness) untersucht wird.
Eine globale Datenbank und die ge- meinsame Verwaltung von Simulationsdaten, die durch Praxistests validiert wurden, ermöglicht den effizienten Wissensaustausch mit Forschungszentren in aller Welt. Die Plattformsimulation ist angesichts der zunehmenden Komplexität moderner Fahrzeuge ein leistungsfähiges Instrument. Die Optimierung des Gesamtsystems bietet einen effektiven Ansatz zur Bewältigung dieser Komplexität und ermöglicht es den Ingenieuren und Konstrukteuren, die bestmögliche Kombination von Einzelkomponenten zu finden.
Einer der Hauptvorteile der Systemsimulation ist ihre Fähigkeit, die Entwicklungszeit erheblich zu verkürzen. Durch den Einsatz der Simulation können Modelle bis zu sechs Monate früher zur Verfügung gestellt werden als bei der Verwendung von physischen Teilen. Diese Geschwindigkeit ist entscheidend, um mit den steigenden Anforderungen des Marktes Schritt zu halten.
Darüber hinaus führt die Systemsimulation zu Kosteneffizienz, indem sie die Robustheit der Funktionen im Vorfeld erhöht. Mit einer höheren Funktionsreife während der Entwicklungsphase lassen sich durch die Verwendung einer übergeordneten Modellierung die Kosten in der Entwicklungsphase senken.
Durch den Einsatz von KI-Algorithmen in der Simulationsphase, insbesondere bei der Kategorisierung von Kundenanforderungen, ist zudem der Ressourcenverbrauch in diesen frühen Entwicklungsphasen deutlich reduzierbar.
Ein weiterer Bereich, in dem die Prozess- und Ressourceneffizienz optimiert wird, ist die Fertigung sowie die Prüfung und Entwicklung von Komponenten. So werden zum Beispiel KI-Modelle in Kombination mit realen Daten verwendet, um Belastungsdaten bei der Prüfung von Seitenwellen nachzubilden und vorherzusagen. Die schnelle Prüfung solcher Komponenten ist besonders wichtig, um mit der raschen Entwicklung von Elektrofahrzeugen (EV) und den Anforderungen des Marktes mithalten zu können.
NVH-Daten lassen sich mithilfe von KI-Simulationsmodellen noch schneller erfassen. Bei modernen Elektrofahrzeugen können Straßen-, Wind- und andere mechanische Geräusche ungefiltert in den Innenraum dringen, da ein Verbrennungsmotor als erste Geräuschquelle entfällt. KI-Modelle können hier die akustische Abstrahlung simulieren und auf diese Weise NVH-Effekte analysieren, bevor der Prototyp gebaut wird, was das Risiko einer kostspieligen Überarbeitung von Komponenten verringert.
Die Einführung von KI-Algorithmen für die Analyse von Fertigungsdaten direkt von den Produktionslinien ist ein weiterer Bereich, in dem sich die Verarbeitung verbessert lässt. Durch den Einsatz von KI können Fertigungsbetriebe ihre Produktivität steigern und die Kosten für Qualitätsprobleme senken.
Eine übergreifende Herausforderung bei der Entwicklung von softwaredefinierten Fahrzeugen ist die Sicherheit des Gesamtsystems. Während die Cybersicherheit schon lange ein wichtiger Faktor in einer zunehmend digitalen Industrie ist, treten ab Juli 2024 neue Cybersicherheitsvorschriften für die Europäische Union in Kraft. Japan und Korea haben sich ebenfalls bereiterklärt, die neue Verordnung innerhalb ihrer eigenen Fristen umzusetzen, die jedoch nicht für den US-Markt gelten.
Die Vorschriften der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE), die einfach als WP.29 bekannt sind, decken vier Schlüsselaspekte für die Hersteller ab: Management von Cyberrisiken in Fahrzeugen, Sicherung von Fahrzeugen durch Konstruktion, Erkennung und Reaktion auf Sicherheitsvorfälle und schließlich die Bereitstellung sicherer Software-Updates.
Für Zulieferer bedeutet dies, dass alle Prozesse, Aktivitäten und Mitarbeiter vor Cyber-Bedrohungen sicher sein müssen, um den Schutz der Fahrzeuge zu gewährleisten. Innerhalb der Organisation betrifft dies alle Tests und die Entwicklung optimierter Systeme sowie die Erfassung und Nutzung der dafür erforderlichen Daten. Auch wenn vollständig softwaredefinierte Fahrzeuge noch nicht die Norm sind, ist das Potenzial für eine Veränderung des Fahrerlebnisses immens. Andererseits wird die Anwendung von KI-Modellen in der Fertigung, bei Tests und Simulationen immer mehr zur gängigen Praxis. Solche KI-Modelle spielen eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung von Effi- zienz, Sicherheit und Produktivität.
Alexander Freiburg
ist Global Senior Manager System Capability bei GKN Automotive. Zuvor war er Director of Product Engineering bei Magna Powertrain. Freiburg ist Diplom-Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik.