Prof. Detlef Zühlke ist wissenschaftlicher Direktor am DFKI und einer der Gründer der SmartFactory in Kaiserslautern im Jahr 2005, also schon lange bevor Industrie 4.0 ins Licht der Öffentlichkeit rückte. Warum wir die Konzepte der Industrie 4.0 brauchen, was sich verändern wird und wo sich der Mittelständler informieren kann, erläutert Prof. Zühlke im Markt&Technik-Interview.
Markt&Technik: Herr Prof. Zühlke, Sie sagten auf unserem »Markt&Technik Industrie 4.0 Summit« in Ihrer Keynote, es klafft eine Schere zwischen der medialen und der industriellen Bedeutung der Industrie 4.0. Veranschaulicht hatten Sie das mit dem Gartner »Hype Cycle« - entsteht hier also nur eine neue Blase, oder stehen wir wirklich am Beginn eines neuen Zeitalters industrieller Produktion?
Prof. Detlef Zühlke: Ich bin davon überzeugt, dass wir hier vor einer grundlegenden Veränderung in der Produktionstechnik stehen und dass das nicht nur eine vorübergehende Blase ist, sondern auch etwas Substanzielles an Veränderungen übrig bleibt.
Im Maschinenbau ist Deutschland weltweit führend - warum braucht die deutsche Industrie überhaupt so etwas wie die Industrie 4.0?
Ganz einfach: Weil wir uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen dürfen. Deutschland muss Innovationsvorreiter sein. Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn wir immer die Nase vor den Konkurrenten haben, und da tut sich sehr viel, China und Korea zum Beispiel holen mit riesen Schritten auf.
Die Bundesregierung hat Fördermittel in Höhe von 200 Millionen Euro für Forschungsprojekte zur Industrie 4.0 bereitgestellt - nun ist das eine ordentliche Summe, aber reicht das wirklich aus für die vielen unterschiedlichen Facetten, in denen Forschungsarbeit erforderlich ist?
Zunächst muss ich klarstellen, dass die 200 Millionen Fördermittel sind, die komplementiert werden durch mindestens die gleiche Summe aus der Industrie. Wenn ich das international vergleiche, bewegen wir uns nicht gerade auf den vorderen Rängen. Aber das muss man dennoch differenzierter betrachten: Wenn die USA 1 Milliarde Dollar ausgibt, fließt das nicht in Innovationen, die vergleichbar sind zum Industrie-4.0-Programm, sondern vor allem in Re-Industrialisierungsprojekte. Die USA haben seit etwa zehn Jahren massiv an Boden in der Produktion verloren und müssen nun massiv in den Wiederaufbau der Fertigung investieren. In Projekte, die mit unseren vergleichbar sind, fließen aber auch nur Gelder in der Größenordnung hinein wie bei uns.
Ich hatte auf dem Mark&Technik Summit den Eindruck, dass zwar forschungstechnisch in Richtung Industrie 4.0 schon viel vorhanden ist, aber gleichzeitig hat mich die Vielzahl an Forschungsprojekten auch etwas »irritiert«, weil viel parallel läuft. Findet denn auch ein Austausch zwischen den Forschungseinrichtungen statt und, wenn ja, inwiefern und wie nachhaltig?
Ja, einen Austausch gibt es. Dass zu viel parallel geforscht wird, kann ich im Moment nicht bestätigen. In der Anfangsphase wird noch nicht das große Gebäude erkennbar sein, an dem wir stricken. Der Bund arbeitet ja mit Leuchtturmprojekten aus verschiedenen Bereichen. Wenn man sich das mehr im Detail anschaut, kann man schon erkennen, dass wir an einem Strang ziehen.
Klar wurde auf dem Summit auch, dass es bislang keine einheitliche Begriffsdefinition von Industrie 4.0 gibt. Einige betrachten zum Beispiel Fernwartung/Remotewartung schon als Industrie 4.0, was es ja nicht ist. Was ist in dieser Hinsicht (Begriffsdefinition) aus Ihrer Sicht noch zu tun?
Der normale Weg ist, dass die Wissenschaft eine Basis erarbeitet, auf der dann die Industrie aufbauen kann. Bei Industrie 4.0 ist das anders herum gelaufen, wir sind diesmal von den Dingen überrollt worden. Wir haben zwar einen schönen Begriff, aber wissen nicht genau, was damit eigentlich gemeint ist. Das führt dazu, dass der Begriff der Industrie 4.0 von einigen Leuten anders ausgelegt wird, als wir das eigentlich gedacht hatten. Es gibt eine offizielle Definition der Plattform Industrie 4.0, mit der ich mich allerdings nicht so recht anfreunden kann.
Derzeit ist die Industrie 4.0 - auch das hat der Summit gezeigt - vor allem ein Thema der Automatisierer bis hin zur MES-Branche. Summit-Teilnehmer aus der Elektronik-Branche stuften dagegen ihren Anteil an Industrie 4.0 in Gesprächen mit mir als »eher gering« ein. Das halte ich, offen gesagt, für falsch. Aber anscheinend ist die Wahrnehmung oder Awareness in der Elektronikindustrie noch nicht derart ausgeprägt wie in der Automatisierung - wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Ich glaube, wenn Sie andere große Industriebereiche befragen, z.B. Automobil, werden Sie relativ wenig Rückkopplung zu Industrie 4.0 sehen. Jemand, der große Batch-Fertigungen macht, wird weniger Affinität zu Industrie 4.0 haben als jemand, der täglich seine Linie neu auf die Kundenwünsche hin konfigurieren muss. Der Druck ist in diesen Bereichen nicht so stark vorhanden wie in anderen Bereichen. So etwas braucht seine Zeit, das bekommen Sie nicht innerhalb von einem Jahr in alle Köpfe hinein.
Ist die Interdisziplinarität bereits genügend ausgeprägt?
Da kann ich klar mit »Nein« antworten, aber das ist auch relativ normal. Vor 20 oder 30 Jahren hat es ähnliche Probleme zwischen Maschinenbau und Elektrotechnik gegeben. Jetzt arbeiten beide Fachbereiche sozusagen »friedlich« zusammen. Ich glaube, wir brauchen noch mehr Interdisziplinarität zwischen Maschinenbau/Automatisierungstechnik und Informatik, und daran muss gearbeitet werden.