Gemäß den wohlbekannten Gleichungen Q = C·U und E = ½ C·U2 müsste die Antwort ein klares Ja sein. Leider sind die vertrauten Gleichungen für gespeicherte Ladung und Energie nicht universell gültig – sie gelten nur für den Sonderfall konstanter Kapazität. Auf einer fundamentaleren Ebene definiert, ist die Kapazität gleich der Ladungsänderung pro Spannungsänderung und die Spannung gleich der Energieänderung pro Ladungsänderung:
C = dQ/dU und U = dE/dQ
Unter der impliziten Voraussetzung konstanter Kapazität lassen sich aus den obigen Gleichungen die vereinfachten Gleichungen für Ladung und Energie ableiten. Im Falle nichtlinearer Kapazitäten müssen Ladung und Energie durch Integration der Kapazität bzw. der Ladung über die Spannung berechnet werden. Bild 2 soll das verdeutlichen. Die Kurven zeigen die Kapazität zweier Kondensatoren in Abhängigkeit von der anliegenden Spannung. Dabei ist die Kapazität des Referenzkondensators CRef spannungsunabhängig. Wobei sich die Kapazität des Kondensators CV im Bereich zwischen 0 V und 100 V linear ändert, von 1,5 · CRef bis 0,5 · CRef. Bei 100 V speichern beide Kondensatoren die gleiche Ladungsmenge. Das ist daran zu erkennen, dass die Fläche (C · U) unter den beiden Kurven in diesem Fall für beide Kondensatoren gleich groß ist. Unerschiedlich sind hingegen die gespeicherten Energiemengen. Integriert man die gespeicherte Ladung über die Spannung, so stellt sich heraus, dass CRef bei 100 V nur 83,3 % der Energie von CV speichert. Ebenso lässt es sich zeigen, dass CV bei 75 V 10 % mehr Ladung, aber die gleiche Energiemenge wie CRef speichert.
MOSFET-Hersteller arbeiten schon seit Jahren mit diesen Integrationen, spezifizieren die Ergebnisse aber nicht als Ladung und Energie, sondern rechnen sie in zwei verschiedene äquivalente Kapazitäten um:
COTR – eine feste Kapazität, die bei Aufladung auf 80 Prozent VDSS die gleiche Ladungsmenge wie COSS enthält
COER – eine feste Kapazität, die bei Aufladung auf 80 Prozent VDSS die gleiche Energiemenge wie COSS enthält
In [2] wurde eine empirisch ermittelte „effektive“ COSS bei 80 Prozent der Nennspannung beschrieben, die der zeitbezogenen äquivalenten Kapazität entspricht. Man beachte, dass sowohl COTR als auch COER selbst von der anliegenden Spannung abhängig sind; das Integral einer nichtlinearen Funktion ist stets wieder eine nichtlineare Funktion. In den Datenblättern wird dieser Wert deshalb auf eine bestimmte Spannung, beispielsweise 80 Prozent der Nenn-Sperrspannung VDS oder 400 V, bezogen. So liefert die Tatsache, dass es für ein und dieselbe COSS zwei verschiedene „äquivalente“ Werte gibt – einen für die gespeicherte Ladung und einen für die gespeicherte Energie –, mehr oder weniger die Antwort auf das Rätsel.
COTR und COER sind nicht nur unterschiedlich groß: Das Verhältnis der beiden Werte kann sogar als Maß für die Nichtlinearität dienen. In unserem Beispiel mit einer Kapazitätsschwankungsbreite von 1,5:0,5 unterscheiden sich COTR und COER um 16,7 %. Bei dem SiHP15N60E beträgt das COTR/COER-Verhältnis fast 3,6. Bei anderen Superjunction-MOSFETs kann die Kapazitätsschwankungsbreite größer als 100:1 und das COTR/COER-Verhältnis größer als 10 sein. Bild 3 zeigt die gespeicherte Ladung und Energie in Abhängigkeit von der Spannung für den SiHP15N60E. Obwohl die beiden Parameter eng miteinander zusammenhängen, unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Spannungsabhängigkeit drastisch voneinander. Die „übergroße“ COTR und entsprechend große gespeicherte Ladung muss in allen Brückenschaltungen – insbesondere solchen, die im ZVS-Modus arbeiten – berücksichtigt werden. Das Entladen des MOSFET-Ausgangskondensators ist nicht dasselbe wie Energieentzug, und für die Dimensionierung der Schaltung sollte nicht COER, sondern COTR herangezogen werden. Selbstverständlich werden für die Berechnung der Schaltverluste sowohl die COER- als auch die Energieberechnungen benötigt [1].
Es dürfte jetzt klar sein, dass der Absolutwert von COSS bei einer gegebenen Spannung weder aussagekräftig ist noch benötigt wird. Nicht die Kapazität selbst interagiert mit dem Rest der Schaltung, sondern die gespeicherte Ladung und Energie bestimmen das Verhalten. Wenn Sie sich Design-Berechnungen anschauen, in denen COSS vorkommt, werden Sie feststellen, dass dieser Wert irgendwo durch Multiplikation mit den entsprechenden Spannungsfaktoren in die gespeicherte Ladung oder Energie umgerechnet wird. MOSFET-Hersteller, darunter auch Vishay, veröffentlichen jetzt in ihren Datenblättern zu Hochspannungs-MOSFETs außer COTR und COER auch die vollständigen EOSS-Kurven (Bild 4). Für 100-V-MOSFETs wird in der Regel auch QOSS bei 50 % spezifiziert, um die Totzeitanalyse für 48-V-ZVS-Brücken zu erleichtern.
Ähnliche Erwägungen gelten auch für die Gate-Drain-Kapazität CRSS, deren Wert jedoch wesentlich kleiner als COSS ist. Wie bereits eingangs erwähnt wurde, ist dieser Wert definitionsgemäß in den COSS-Messwerten enthalten. Schon vor langer Zeit wurde die nichtlineare Natur von CRSS als problematisch erkannt und in der Fachliteratur abgehandelt. So ist die QGD-Komponente der Gate-Ladungskurve nichts anderes als die in CRSS gespeicherte Gesamtladung, die beim Ein- beziehungsweise Ausschalten zugeführt beziehungsweise entnommen werden muss. Man beachte, dass die Nichtlinearität der (stückweise linearen) Gate-Ladungskurve nicht auf Nichtlinearitäten der involvierten Kapazitäten zurückzuführen ist. Beim Einschalten eines MOSFETs müssen zwei verschiedenen Kondensatoren geladen werden, an denen während des ausgeschalteten Zustands unterschiedlich hohe Spannungen anliegen.
Beim Einsatz von MOSFETs sollte man sich stets darüber im Klaren sein, dass deren Kapazitäten nicht aus zwei Elektroden mit einem Dielektrikum dazwischen bestehen. Sie sind stattdessen von transienter Natur und kommen hauptsächlich während der Schaltintervalle ins Spiel, wenn der MOSFET schnellen Spannungsänderungen (dU/dt) ausgesetzt ist. In Ersatzschaltbildern dargestellte Kapazitäten repräsentieren die Interaktionen zwischen elektrischen Feldern in Halbleitermaterialien und den damit einhergehenden Strömen. Diese Repräsentation ist nur aussagekräftig, solange die Beziehung linear ist. Angesichts der extremen Nichtlinearitäten in heutigen MOSFETs wäre es nicht übertrieben zu sagen, dass es so etwas wie COSS oder CRSS eigentlich nicht mehr gibt. Anstatt zu versuchen, die Kurve zu linearisieren und irgendwie zu glätten, sollten Entwickler sich auf die Grundlagen besinnen und direkt mit gespeicherten Ladungen und Energien arbeiten. (eg)