Gehirnforschung

Kartierte Nerven

11. November 2011, 9:43 Uhr | Nach Unterlagen des Max-Planck-Instituts für medizinische Forschung

Das menschliche Gehirn ist das komplizierteste aller Organe. Milliarden von Nervenzellen sind darin mit ihren Fortsätzen zu einem hochkomplexen, dreidimensionalen Netz verwoben. Die Kartierung dieses Netzwerks stellt Wissenschaftler bislang vor eine kaum lösbare Herausforderung. Neue Analysewerkzeuge erlauben nun die schnelle und exakte Rekonstruktion von Nervennetzwerken.

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Rekonstruktion von 114 bipolaren Nervenzellen von einem Stück Mausretina. Jede Zelle hat eine andere Farbe. Die dichten Bündel sind Dendriten, die sparsameren Prozesse sind Axone.
© MPI für medizinische Forschung

Rund 70 Milliarden Nervenzellen, Hunderttausende von Kilometern Leitungsbahnen - das menschliche Gehirn ist so komplex, dass es lange Zeit unmöglich schien, dieses Netzwerk im Detail abzubilden. Denn jedes einzelne dieser Neuronen ist über fein verästelte Fortsätze, die Dendriten und Axone, mit etwa eintausend anderen Nervenzellen verbunden, mit denen es über elektrische Signale kommuniziert.

Die Verschaltungen zwischen den Zellen sind entscheidend für die Funktion des Gehirns. Um dessen Funktionsweise zu erforschen, wollen Neurowissenschaftler daher die Struktur dieser Nervennetze - das Konnektom - aufklären und in einer dreidimensionalen Karte darstellen. Weil dieser Aufgabe weise ist nicht neu: Seit Jahren werten beispielsweise hunderttausende von Rechnern auf der ganzen Welt in den Arbeitspausen ihrer Benutzer Daten von Radioteleskopen aus, auf der steten Suche nach extraterrestrischen Signalen.

Während die Außerirdischen ihre Kommunikation offenkundig vor hiesigen »Seti@home«-Lauschern abschirmen, ist das Forscherteam am Heidelberger Max-Planck-Institut für medizinische Forschung erfolgreicher. Die Wissenschaftler Dr. Moritz Helmstaedter, Dr. Kevin L. Briggman und Dr. Winfried Denk entwickelten zwei neue Computerprogramme namens »KNOSSOS» und »RESCOP«. Mithilfe dieser Analysewerkzeuge haben über 70 Studenten gemeinsam einen Verbund von über 100 Nervenzellen kartiert - deutlich schneller und weniger fehleranfällig als mit bisherigen Methoden.

Netzhaut ins Auge gefasst

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Die Rekonstruktion von 114 bipolaren Nervenzellen von einem Stück Mausretina. Die Dendriten bilden dichte Bündel, an denen die bipolaren Zellen Signale von den Photorezeptoren erhalten.
© MPI für medizinische Forschung

RESCOP (REdundant-Skeleton COnsensus Procedure) fasst die Ergebnisse vieler Beobachter zu einem Gesamtbild zusammen. Im Detail verwendet die Software ein statistisches Modell der Transformation von Neuriten-Verbindungen in Entscheidungen und Bewertungen (Neuriten sind die Fortsätze der Neuronen). Das verwendete statistische Verfahren steigert die Zuverlässigkeit deutlich, wenn gezielt auf unterschiedliche Punkte im Nervennetzwerk fokussiert wird.

Auf diese Weise lassen sich große neuroanatomische Datensätze annähernd fehlerfrei analysieren. Mit Unterstützung der Studenten der Heidelberger Universität konnte der Verbund von über 100 Nervenzellen aus einem Stück Netzhaut des Auges in allen Einzelheiten rekonstruiert werden. Das untersuchte Gewebestück war dabei nicht größer als ein Sandkorn.

Um die Verbindungen zwischen den Nervenzellen zu verfolgen, diente den Studenten das Computerprogramm KNOSSOS. Hier handelt es sich nicht um ein Akronym: »Den Verbindungen im Gehirn nachzuspüren, ist mindestens so schwierig, wie den Weg aus einem mythologischen Labyrinth zu finden«, schildert Moritz Helmstaedter, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts, das Problem.

Um Nervennetze zu rekonstruieren, machen Forscher zunächst die Neuronen in einem Gewebeschnitt mithilfe von Schwermetallfärbungen sichtbar. Unter Benutzung von dreidimensionalen elektronenmikroskopischen Bildern folgen sie dann ausgehend vom Zellkörper dem Verlauf der Dendriten und Axone und markieren die Verzweigungspunkte auf dem Bildschirm. Anschließend erstellen sie am Rechner ein dreidimensionales Bild des jeweiligen Ausschnitts.

Nach und nach können sie sich so durch das Gewirr von Nervenzellen voranarbeiten. Ein langwieriges Unterfangen: Mit den bisher verfügbaren Programmen würde eine Person allein mindestens 30 Jahre brauchen, um einen Pfad von 30 Zentimetern zu rekonstruieren. Diese Verfahren sind zudem fehleranfällig, da die Verzweigungspunkte nicht immer leicht zu erkennen sind und die Aufmerksamkeit des Betrachters mit der Zeit nachlässt.

Ariadne-Faden

Die KNOSSOS-Software verkürzt die benötigte Zeit beträchtlich: Verglichen mit den bisher verwendeten Programmen ist die Methode etwa fünfzigmal schneller. Mithilfe von RESCOP ist es nun außerdem möglich, dass Dutzende Personen gleichzeitig an der Rekonstruktion mitarbeiten. Weil die Methode leicht zu erlernen ist, können auch Laien die Aufgabe übernehmen.

Die meisten der Studenten arbeiteten von zu Hause aus und schickten ihre Ergebnisse elek-tronisch an die Wissenschaftler. Wie die Forscher nachweisen konnten, machten die besten Studenten dabei nicht mehr Fehler als erfahrene Neurobiologen. Dank ausgeklügelter Algorithmen ist RESCOP außerdem in der Lage, Unstimmigkeiten zu finden und herauszumitteln. Die Rekonstruktion ist damit nicht nur schneller, sondern auch zuverlässiger als bisher.

»Die neuen Programme könnten es uns erstmals ermöglichen, das komplizierte Nervennetzwerk des Gehirns zu entwirren - eine Aufgabe, noch wesentlich komplexer als die Entschlüsselung des menschlichen Genoms«, sagt Winfried Denk, Leiter der Abteilung für biomedizinische Optik. Als Nächstes wollen die Wissenschaftler ein Stück der Großhirnrinde rekonstruieren, denn dort finden alle wichtigen geistigen Prozesse statt.


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