Die Analyse von Turing-Modellen erfordert langwierige mathematische Berechnungen, die typischerweise von Hand durchgeführt werden und zwei Seiten füllen würden, um ein einziges Netzwerk zu modellieren. Diesen Ansatz so auszuweiten, dass Millionen möglicher Netzwerke systematisch untersucht werden können, erscheint unmöglich. Die Wissenschaftler haben daher ein modernes Computeralgebrasystem eingesetzt und die Software »RDNets« entwickelt, die solche komplizierten Berechnungen innerhalb weniger Minuten durchführt.
Die Forscher untersuchten mit ihrer neuen Software Millionen von Reaktions-Diffusions-Netzwerken und stellten dabei fest, dass die meisten Musterbildungs-Netzwerke eine bisher als absolut notwendig erachtete Bedingung in Turings Modell nicht zwingend erfüllen müssen: Das eine Signalmolekül muss nicht schneller als das andere diffundieren. Die Moleküle können sich auch gleich schnell oder sogar mit beliebigen Geschwindigkeiten bewegen. »Wir haben herausgefunden, dass biologisch relevante Reaktions-Diffusions-Systeme einem völlig anderen Mechanismus folgen als bisher angenommen wurde«, sagt der Forschungsgruppenleiter Patrick Müller.
Die Wissenschaftler haben mit ihrer neuen Software biologische Netzwerke untersucht, die z.B. frühe Differenzierungsvorgänge und die Entwicklung von Fingern steuern. Neben der Relevanz für die Entwicklungsbiologie kann RDNets aber auch von Bioingenieuren verwendet werden, denn mit der Software ist es nun möglich, musterbildende Prozesse zu modellieren und die dazugehörigen genregulatorischen Schaltkreise dann synthetisch nachzubauen. Das ist vor allem für die Gewebezüchtung, beim sogenannten Tissue Engineering, von Nutzen. Die Software kann so dabei helfen, neue synthetische Systeme zu entwicklen, bei denen sich die Zellen an definierten Stellen zu bestimmten unterschiedlichen Gewebearten entwickeln.
Die Systembiologie untersucht biologische Netzwerke, bei denen die Moleküle die Knoten und die molekularen Interaktionen die Kanten der Netzwerke darstellen. Die Dynamik solcher Schaltkreise kann durch Differenzialgleichungen beschrieben werden, die das Verhalten der Moleküle in Abhängigkeit von Ort und Zeit darstellen. Differenzialgleichungen können grundsätzlich auf zwei Arten gelöst werden. Im analytischen Ansatz wird eine Lösung von Hand berechnet, die das Verhalten des Systems für alle möglichen Parameterwerte beschreibt. Im numerischen Ansatz berechnet ein Computer tausende Lösungen, die das Verhalten der Gleichungen unter bestimmten Bedingungen beschreiben, wie zum Beispiel für repräsentative Parameterwerte.
Solche numerischen Simulationen können deshalb nur einen Teil des Parameterraums abbilden, wohingegen analytische Ansätze eine vollständige Beschreibung des Systems liefern. In der Praxis sind analytische Ansätze allerdings auf einfache Systeme beschränkt, da die Mathematik mit zunehmender Größe des Systems zu kompliziert wird, um sie von Hand lösen zu können.
Der Ansatz hat diese Einschränkung nun überwunden. RDNets führt eine lineare Stabilitätsanalyse von partiellen Differenzialgleichungen mit Hilfe eines Computeralgebrasystems durch. Mit diesem neuartigen Ansatz automatisierter mathematischer Analyse können neue biochemische Turing-Netzwerke gefunden werden, die selbstorganisierende periodische Muster bilden.
Die Analyse kann ferner mit qualitativen und quantitativen Bedingungen eingeschränkt werden, sodass die Software den Anwendern völlig neue Möglichkeiten eröffnet, musterbildende Netzwerke während der Embryonalentwicklung zu untersuchen oder synthetische Schaltkreise für Reaktions-Diffusions-Systeme zu entwickeln. RDNets ist frei verfügbar und läuft auf den meisten Internet-Browsern.