It's the culture, stupid!

Was Führungsfehler 'aus dem Elfenbeinturm' verhindert

17. September 2024, 13:14 Uhr | Corinne Schindlbeck
Diplom-Psychologin Dr. Annelen Collatz hat den Arbeitsschwerpunkt Wirtschafts- und Klinische Psychologie sowie Arbeitswissenschaften. Sie promovierte zum Thema »Persönlichkeit von Topmanagern«. Daneben betreut sie als Coach seit vielen Jahren die deutsche Ruder-Nationalmannschaft, den „Deutschland-Achter“.
© Foto: Christoph Kniel

Eine C-Level-Führungskraft ist mächtig, ihre Arbeit anspruchsvoll, der Druck oft hoch. Das kann einsam machen. Wenn Mitarbeiter zu Ja-Sagern verkommen sind, kann es regelrecht gefährlich werden, wie etwa der VW-Dieselskandal zeigte. Wie wird man agil mit motivierten, leistungsbereiten Mitarbeitern?

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Der VW-Diesel-Skandal ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass Manager im sogenannten "Elfenbeinturm" agieren können – also abgeschottet von der Realität und den tatsächlichen Konsequenzen ihrer Entscheidungen. Eine der zentralen Ursachen des Skandals war wohl der enorme Druck, den VW-Manager auf ihre Ingenieure und Mitarbeiter ausübten, strenge Emissionsziele zu erreichen, ohne die technologischen oder regulatorischen Einschränkungen ausreichend zu berücksichtigen. Das führte dazu, dass »kreative«, aber eben illegale Lösungen wie die Manipulation der Abgassoftware entstehen konnten. Was Ex-Chef Martin Winterkorn davon wirklich wusste, ist Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung.   

Es ist aber offensichtlich, dass es innerhalb des Unternehmens keine offene und angstfreie Kommunikationskultur gab, in der Bedenken über die Rechtmäßigkeit oder die ethischen Auswirkungen der Abgasmanipulation geäußert wurden. Sondern dass eine hierarchische Kultur vorherrschte, in der kritisches Feedback von unten nicht bis zur Führungsspitze durchdrang bzw. vermieden wurde, um nicht anzuecken.

Verschiedene Studien u.a. von Gallup, Deloitte und EY in den letzten Jahren haben die Problematik fehlender Feedbackkultur auch bei Führungskräften thematisiert. Laut einer weltweiten Studie unter 2.000 CEOs und Aufsichtsräten durch die Management-Beratung Spencer Stuart haben derzeit nicht etwa Künstliche Intelligenz oder Geopolitik oberste Priorität in den Top-Etagen. Ein Viertel der weltweit und auch der in Deutschland Befragten bewerten laut Umfrage die Agilität in ihren Unternehmen als nicht ausreichend, sondern als „träge und mühsam“. Lars Gollenia, Deutschland- und Österreich-Geschäftsführer von Spencer Stuart: »Selbst die Multitaskingfähigsten müssen ihr Netzwerk jetzt intern wie extern erweitern, Kommunikation als A und O begreifen und ihr Top-Führungsteam stärken, um die wesentlichen Aufgaben strategisch und operational angehen zu können«.

Die Strukturen sind manchmal noch Hindernis auf dem Weg zur agilen Kultur. Ganz oben an der Spitze wird es oft einsam, weil das Korrektiv fehlt. Und viele scharren doch ein Biotop um sich, das eben genau das verhindert. Die Isolation führe häufig dazu, dass sich Führungskräfte mit einem Team umgeben, das ihnen nicht widerspricht, sagt Diplom-Psychologin und Executive Coach Dr. Annelen Collatz. Dazu kommt: CEOs haben keinen direkten Vorgesetzten, der ihnen regelmäßige Rückmeldung gibt. Zwar sind Aufsichtsräte rein formal für die Kontrolle und auch für die Führung eines CEOs zuständig, doch »häufig passiert da gar nichts«, so Collatz. Die Folge: Top-Manager erhalten keine Rückmeldung über ihr Verhalten, ihre Entscheidungen und ihre Entwicklung, was zu einer gefährlichen Entkopplung von der Realität führen kann.

Warum? Collatz‘ Beobachtung: »Weil es nur wenige Menschen in ihrem Umfeld gibt, die den Mut oder die Position haben, ihnen wirklich objektives Feedback zu geben. Diese Isolation kann zu einer gefährlichen Selbstüberschätzung führen, die nicht nur die Führungskraft, sondern auch das Unternehmen gefährden kann.« Siehe VW. 

Mitarbeitende auf niedrigeren Hierarchieebenen sind in solchen Strukturen erst recht keine Hilfe. Sie scheuen oft davor zurück, ihre Vorgesetzten offen zu kritisieren, da sie befürchten, dass dies negative Auswirkungen auf ihre Karriere haben könnte. Dadurch bleibt wertvolles Feedback aus, und die Führungskräfte entfernen sich zunehmend von der operativen Realität.

Die Konsequenzen dieses Mangels an kritischer Rückmeldung sind weitreichend. CEOs, die in ihrem „Elfenbeinturm“ gefangen sind, laufen Gefahr, strategisch falsche Entscheidungen zu treffen, da sie nicht mehr ausreichend geerdet sind. Das birgt die Gefahr, den Kontakt zu den tatsächlichen Herausforderungen im Unternehmen zu verlieren.

»Es gibt CEOs, die sich die Schwächsten um sich scharen, um selbst als der Stärkste zu erscheinen«, beobachtet Collatz. Doch diese Strategie führt langfristig ins Aus. Das Gegenteil sei richtig: sich mit den Besten umgeben, um selbst besser zu werden. Dies erfordert zunächst Erkenntnis, stärkt dann aber langfristig die eigene Führungskompetenz.

Und die Fähigkeit zur Selbstreflexion, eine der wertvollsten Eigenschaften, die eine Führungskraft laut Collatz entwickeln könne: »Es geht nicht nur darum, strategische Entscheidungen zu treffen, sondern auch darum, die eigenen Schwächen zu erkennen und aktiv an ihnen zu arbeiten.« 

Collatz, die Führungspersönlichkeiten auf höchster Ebene befähigen will, ihre strategischen, interpersonellen und persönlichen Kompetenzen weiterzuentwickeln, setzt dazu auf ein eigens entwickeltes Programm namens "Deep Work Coaching". Es brauche dazu aber auch eine Atmosphäre der Offenheit im gesamten Vorstandsteam, was ja häufig gar kein echtes Team, sondern eine Ansammlung von Individuen sei. 

Die Lösung liegt also zugleich in der Kultur. Collatz: »Es ist entscheidend, ein Umfeld zu schaffen, das auf Offenheit und Vertrauen basiert. Hier kommt das Konzept des Inner Circles ins Spiel – ein enger Kreis von Vertrauten, die nicht nur loyal, sondern auch in der Lage sind, kritisches Feedback zu geben.«, ergänzt Collatz. Aber: »Es braucht Zeit, da hinzukommen. Eine Unternehmenskultur kann man nicht von heute auf morgen verändern.« 

Welche Mechanismen fördern eine offene und transparente Unternehmenskultur, in der Fehlentscheidungen rechtzeitig korrigiert werden können?

Um einem „Elfenbeinturm“-Management entgegenzuwirken und eine engere Verbindung zwischen Führungskräften und den realen Herausforderungen des Unternehmensalltags zu fördern, sind effiziente Feedback-Mechanismen nötig: 

  • Offene Kommunikation und „Bottom-Up“-Feedback

Eine Feedback-Kultur, bei der Mitarbeiter auf allen Ebenen ihre Meinungen, Ideen und Bedenken frei äußern können, ohne Angst vor negativen Konsequenzen zu haben. Regelmäßige Umfragen, anonyme Feedback-Tools oder offene Meetings können dazu beitragen, dass Führungskräfte die Perspektiven ihrer Mitarbeiter besser verstehen. Dies hilft dabei, isolierte Entscheidungsprozesse aufzubrechen und das Management näher an die operative Realität zu bringen.

  • 360-Grad-Feedback

Häufig anzutreffen ist das 360-Grad-Feedback, auch Multi-Rater-Feedback genannt. Damit erhalten Manager Rückmeldungen nicht nur von ihren Vorgesetzten, sondern auch von ihren Kollegen, Untergebenen und externen Partnern. Dieses Feedback "von allen Seiten" ermöglicht es Führungskräften, ein umfassendes Bild ihrer eigenen Leistung zu erhalten und zu erkennen, wie ihre Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen werden. Es fördert auch eine Kultur der Rechenschaftspflicht und Transparenz. Allerdings ist der Erfolg stark abhängig von der Qualität der Fragebögen sowie der auswertenden Personen. Und nicht zuletzt muss die Top-Führungskraft das 360-Grad-Feedback unterstützen und annehmen - Stichwort Selbstreflexion.  

  • Regelmäßige Mitarbeiterbefragungen

Regelmäßige und strukturierte Mitarbeiterbefragungen zu Themen wie Arbeitszufriedenheit, ethischem Verhalten und Unternehmensstrategie bieten ebenfalls Einblicke, wie es um Stimmung und Meinungen in der Belegschaft bestellt ist. Solche Umfragen können anonymisiert durchgeführt werden, um ehrliche Rückmeldungen zu fördern, die sonst möglicherweise aus Angst vor Konsequenzen zurückgehalten würden. Wichtig hierbei: Kommt dabei negative, der Führungsspitze unangenehme Kritik heraus, darf die Umfrage nicht einfach in der Schublade verschwinden. 

  • Ethik- und Compliance-Hotlines

Unternehmen können anonyme Hotlines oder Online-Meldesysteme - oft über extern - einrichten, über die Mitarbeiter ethische Bedenken oder Regelverstöße melden können, ohne Repressalien befürchten zu müssen.

  • Engere Zusammenarbeit zwischen Management und operativen Teams

Um zu vermeiden, dass Führungskräfte sich von den realen Herausforderungen des Tagesgeschäfts abkapseln, kann "Management by Walking Around“ hilfreich sein: Führungskräfte sprechen direkt mit den Mitarbeitern am Arbeitsplatz oder nehmen an Projekten direkt teil. Es soll für ein besseres Verständnis der Herausforderungen sorgen und pragmatische Entscheidungen fördern.

  • Agile Organisationsmodelle

Sie ermutigen zu flexibleren, iterativen Entscheidungsprozessen, bei denen regelmäßige Rückmeldungen und Anpassungen auf Basis neuer Informationen erfolgen. Durch kurze Feedback-Schleifen, wie sie z. B. in Scrum- oder Kanban-Prozessen verwendet werden, können Entscheidungen kontinuierlich überprüft und angepasst werden, basierend auf aktuellen Rückmeldungen aus dem operativen Geschäft.

  • Führungskräftetrainings

Um die Perspektiven und Emotionen ihrer Mitarbeiter besser nachzuvollziehen, gibt es Trainings, die auf Empathie, Kommunikation und Selbstreflexion abzielen. Bei Dr. Annelen Collatz etwa geht es im Kern darum, Führungspersönlichkeiten auf höchster Ebene zu befähigen, ihre strategischen, interpersonellen und persönlichen Kompetenzen weiterzuentwickeln.

  • Aufsichtsgremien und unabhängige Kontrollen

Auf organisationaler Ebene können und sollen unabhängige Gremien, wie Aufsichtsräten oder Ethikkommissionen, das Management überwachen und beraten. Dazu müssen Aufsichtsratsmandate sorgsam wahrgenommen werden - und nicht nur das Papier zieren. Diese Gremien sollten über ausreichende Macht verfügen, um das Management in ethischen und strategischen Fragen herauszufordern.

  • Externe Stakeholder-Dialoge

Auch der regelmäßige Austausch mit externen Stakeholdern – Kunden, Lieferanten, NGOs und Regulierungsbehörden – kann dazu beitragen, dass Führungskräfte nicht nur eine interne Perspektive einnehmen. 

  • Regelmäßige Kommunikation

Eine Kultur der Transparenz, in der wichtige Entscheidungen und deren Begründungen offen gelegt werden, fördert Vertrauen innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Dies kann durch regelmäßige Berichterstattung und Kommunikation gegenüber den Mitarbeitern sowie der Öffentlichkeit erreicht werden. Eine solche Offenlegung zwingt Führungskräfte dazu, Entscheidungen wohlüberlegt und nachvollziehbar zu treffen.
 


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