Seit knapp 30 Jahren prägt die PICMG mit ihren Standards die Embedded-Computing-Branche. Doch ruht sich das Gremium keineswegs auf den Lorbeeren vergangener Tage aus. Ganz im Gegenteil: Mit ModBlox7 haben einige Mitglieder den ersten weltweiten Standard für Industriecomputer entwickelt.
Unter dem Dach der PCI Computer Manufacturers Group (PICMG) arbeiten seit einiger Zeit mehrere Hersteller an einem neuen Standard für modulare Industrie-PCs: ModBlox7. Er soll die Vorteile skalierbarer Systeme wie CompactPCI mit kostensparenden Box-PCs kombinieren. Als flexibles Box-PC-System basiert ModBlox7 auf in der Höhe und Tiefe definierten Einheiten, die in der Breite beliebig erweiterbar sind. Warum es angesichts der großen installierten Basis und der langen Einsatzgeschichte von Box-PCs eines modularen Standards bedarf, erläuterten Experten beim Roundtable der Markt&Technik.
Mathias Beer, Geschäftsführer bei Ci4Rail, war neben Bernd Kleeberg, Geschäftsführer bei EKF Elektronik, maßgeblich an der Umsetzung des neuen Standards beteiligt. Gefragt nach den Hintergründen zur Idee von ModBlox7, gibt Beer die steigende Nachfrage nach kleinen, platzsparenden und leichten industriellen Box-PCs an. Herausfordernd für Entwickler sei hierbei die Interoperabilität zwischen verschiedenen PCs sowie die fehlende Flexibilität. »Entwickler müssen mit den Geräten arbeiten, die sie im Handel bekommen, egal wie sie konfiguriert sind. Wir möchten die Vorteile modularer Systeme mit denen eines Box-PC kombinieren«, erläutert Beer. Box-PC-Technologie zu patentieren sei eine völlig neue Idee, standardisiert sei oftmals lediglich die Technik, die im Box-PC verwendet wird, zum Beispiel COM-Express-Module. Aus diesem Grund sei es leicht gewesen, etwas Neues zu beginnen, so Beer.
Thomas Kaminski, Director Product Sales and Marketing Management bei Advantech, zieht einen Vergleich zum sogenannten Intel-NUC-Standard. Er sei das einzige Beispiel, bei dem ein Unternehmen versucht hat, einen Standard für Industriecomputer zu entwickeln der für unterschiedlichste Märkte und Applikationen eingesetzt werden kann. »Andere Unternehmen spezialisieren sich auf bestimmte Zielmärkte mit einen Produktfamilienkonzept «, so Kaminski weiter.
Die große Fülle an am Markt erhältlichen Industriecomputern wirft die Frage auf, worin die Vorteile von ModBlox7 gegenüber Box-PCs von der Stange liegen. Mathias Beer meint: »Was alle Standards bewirken, ist, Interoperabilität für den Nutzer bereitzustellen, ebenso für Anbieter, die Produkte nach dem neuen Standard fertigen. Das bedeutet, dass Entwickler ein System aus mehreren Anbietern zusammenstellen können. Umgekehrt können sich Hersteller von ModBlox7-Komponenten untereinander austauschen und interagieren – nicht jeder muss jedes Bauteil selbst entwerfen«, erklärt Beer.
Advantech ist einer der größten Hersteller vonindustriellen Computerplattformen wie emebedded computer boards und Modulen sowie Box-PCs. Das Unternehmen fertigt proprietäre Industrie-PCs oder individuell nach Kundenwunsch, jedoch bislang nicht im neuen ModBlox7-Formfaktor. Thomas Kaminski erläutert die Gründe hierfür: »Zum einen bedienen wir völlig unterschiedliche Märkte mit verschiedenen Anforderungen, außerdem möchten wir bei der Systemkonfiguration flexibel sein. Zudem müssen wir die Ansprüche des Marktes erfüllen, zum Beispiel in Bezug auf Performance & Wärmemanagement und auch speziellen Zertifizierungen. Das führt oft zu einer bestimmten Größe und Design. einem bestimmten Gehäuse sowie einer bestimmten Form des PCs. Ich habe große Zweifel daran, dass man für all die verschiedenen Märkte in einem einzigen Standard sinnvolletablieren kann. Jedoch beobachten wir die Standardisierung sehr genau«, so Kaminski.
Für Mathias Beer war es nie die Absicht, jede Applikation in eine bestimmte Leistungsklasse oder einen internen Standard zu zwängen, das sei schlicht nicht möglich. »Es war nie die Absicht, den Markt für Box-PCs zu revolutionieren«, erklärt Beer. »Vielmehr möchten wir Anwender von Steuer- oder Diagnosesystemen ansprechen, gerade für den Bahnbereich, aus dem Ci4Rail kommt«, berichtet Beer.
Ein weiterer Punkt, der im Bereich der Industrie-Computer derzeit heiß diskutiert wird, ist die Prozessortechnik. Denn die CPUs werden immer leistungsfähiger und energieeffizienter, was zu neuen Innovationen am Markt führt. »Mit ModBlox7 sprechen wir Low-End- bis High-End-Arm sowie x86-Prozessoren bis hin zu 20, 25 W an. Der Standard sieht allerdings keine Cluster vor, in denen sich zwei oder drei CPUs stapeln lassen. Bei ModBlox7 geht es eher um Redundanz, zum Beispiel im Sinne der Verfügbarkeit«, meint Beer.
Timo Korhonen, Chief Engineer der Control Systems Division bei European Spallation Source ERIC, gibt seine Erfahrungen aus wissenschaftlichen Applikationen weiter: »Es gibt immer eine Lücke zwischen Systemen mit hohen und niedrigen Leistungsanforderungen«, so Korhonen. Am Ende habe man viele verschiedene Box-PCs oder speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) im Labor, die nicht zusammenpassen, erklärt er. Mathias Beer gefällt die Beschreibung: »ModBlox7 passt perfekt, wenn jemand Allzweck-Computing betreiben sowie ein normales Betriebssystem haben möchte.«
An welchen Punkten der Spezifikation derzeit gearbeitet wird und welche Punkte noch zu diskutieren sind, erläutert Bernd Kleeberg. »In Bezug auf ModBlox7 sind wir am Ende des Spezifikationsprozesses angelangt. Die technische Arbeit ist vollständig erledigt. Wir müssen lediglich noch die letzten administrativen Schritte einleiten und gehen davon aus, dass wir im ersten Quartal 2024 fertig sind. Auf der embedded world 2024 möchten wir die fertige Spezifikation der Community vorstellen.«
Gefragt nach der Lebensdauer von ModBlox7, meint Mathias Beer, sie hänge sehr vom Markt ab. »Wir sind im Bahngeschäft tätig, hier ist eine Lebensdauer von mindestens 15 Jahren gefordert. Wir müssen in der Lage sein, unser Produkt über zehn und mehr Jahre hinweg zu liefern und ändern zu können«, ergänzt Beer, anders als beispielsweise im Bereich der Automation, wo die Innovationzyklen kürzer seien. Die Norm helfe hier, weil sie die Möglichkeit biete, einzelne Teile zu iterieren.
Zudem stellt sich die Frage, wie man eine höhere Leistung von ModBlox7-PCs erreichen kann und ob dafür Dokumente erweitert oder bereitgestellt werden müssen. Mathias Beer meint: »Was der Standard abdeckt, sind zusätzliche Kühlmöglichkeiten. Wir sprechen derzeit über die Einbeziehung von Graphics-Processing-Units (GPUs) bis zu einem bestimmten Niveau, nicht die 90- oder 200-Watt-Versionen, sondern etwa bis zu 30 Watt, die für kleinere Computer-Vision-Applikationen oder Ähnliches geeignet sind. Hiermit möchten wir Edge-KI-Applikationen abdecken«, erklärt Beer.
Edge-KI ist ein gutes Stichwort, drängen doch mehr und mehr KI-Applikationen auf den Markt für Embedded-Computing-Technologie. Und es drängt sich die Frage auf, ob man sich die Chancen am KI-Markt mit einer Standardisierung nicht nimmt, könnte man doch hierbei die nötige Flexibilität verlieren. Brandon Lewis, Marketing Officer der PICMG, meint: »Wenn wir von KI sprechen, denkt jeder sofort an GPUs und als Erstes an Nvidia. Fraglich ist jedoch, ob GPUs in einen Formfaktor-Standard wie diesen passen«, so Lewis. Mathias Beer stellt fest, dass Anwendungen immer stärker vernetzt sind und dass die Verbindung zwischen der Cloud und den Edge-Geräten viel stabiler ist. So können Entwickler KI-Applikationen sehr einfach zwischen den beiden verteilen, erklärt Beer.
Thomas Kaminski sieht die Chancen bei KI als eines der größten Ziele für die nächsten Jahre bei Advantech. Hierbei gehe es zunächst einmal um das Erfassen von Informationen und Daten und dem Verarbeiten dieser am Edge in der sogenannten Interference Unit. Hierfür seien die nächsten Generationen von Intel-Prozessoren sehr gut geeignet. Sie besitzen eine Neural-Processing-Unit(NPU)-Skalierung der Kernkomponenten für mehr Rechenleistung und KI-Effizienz. Das öffne dem Edge-Computing viele neue Türen. Und auch Intel beginne, seine GPU-Karten auf den Markt zu bringen. »Wir haben uns auf KI am Edge, und zwar mit der neuesten Generation von Intel- und AMD- und Qualcomm-Technologie, spezialisiert«, erklärt Kaminski.
Neben ModBlox7 gibt es weitere Standards der PICMG, die in etwa in dieselbe Kerbe schlagen, darunter CompactPCI Serial oder MicroTCA. MicroTCA entstand 2006 aus dem Vorgänger AdvancedTCA und wurde hauptsächlich für die Telekommunikationsbranche, für Systeme mit hoher Leistungsdichte entwickelt. Im Jahr 2023 stellt sich die Frage, inwieweit der Standard überhaupt noch eine Rolle spielt.
Timo Korhonen kann aus der Perspektive der wissenschaftlichen Anwendungen sprechen. Hier komme MicroTCA in Bereichen zum Einsatz, die vor allem Hochfrequenzsignale verarbeiten, elektromagnetische Felder messen oder Ähnliches. Zudem sieht er in der Bildverarbeitung einen wachsenden Einsatzbereich. Jess Isquith, President der PICMG, meint: »Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat die Spezifikation weltweit übernommen und es kommen immer neue Applikationen dazu. 2023 wurde sogar eine neue Version der Spezifikation veröffentlicht. Gerade in Asien und Europa gibt es eine hohe Akzeptanz des Standards«, so Isquith. Bernd Kleeberg widerspricht: »Wir verwenden den Standard nicht. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass der Verwaltungsaufwand und die hiermit verbundenen Kosten zu hoch sind. Deshalb bevorzugen wir in industriellen Applikationen andere Standards.«
Weil MicroTCA ursprünglich für Telekommunikationsanwendungen entwickelt wurde, stellt sich aktuell die Frage, ob es nötig ist, die Norm in Hinblick auf 5G und 6G zu überarbeiten. Jess Isquith meint: »Hierbei gibt es ein Problem mit den Steckverbindern, denn jeder Steckverbinder kann lediglich eine bestimmte Menge an Daten übertragen. Also müssen wir die Spezifikation im Sinne der Steckverbinder ändern.
Hierbei handelt es sich um eine neue Spezifikation, da die Abwärtskompatibilität nicht mehr gegeben ist. Somit erstellen wir eine Reihe neuer Spezifikationen«, fasst Isquith zusammen. Zudem gebe es seit einigen Jahren ein MicroTCA-Technology-Lab, das von der deutschen Regierung finanziert wird. »Die Mitarbeiter engagieren sich sehr und entwickeln Frameworks, Standardprodukte und Referenzdesigns«, gibt Isquith zu Protokoll.
Timo Korhonen ergänzt: »Ich arbeite seit zehn Jahren in diesem Projektausschuss mit. Wir sind auf viele Beiträge von außen, aus der Industrie und von unseren Partnerlabors in ganz Europa angewiesen. Das Dilemma dabei ist, dass man einerseits auf dem neuesten Stand der Technik sein möchte, andererseits jedoch in der Lage sein muss, das System aufrechtzuerhalten, weil man nicht alles ersetzen kann, wenn es etwas Neues gibt. Die lange Lebensdauer des Standards ist also sehr, sehr wichtig«, so Korhonen.
Ein weiterer PICMG-Standard ist CompactPCI Serial aus dem Jahr 2011, der sich ebenfalls an modulare Systeme richtet. Im Gegensatz zum klassischen CompactPCI nutzt CompactPCI Serial nicht mehr den parallelen Peripheral Component Interconnect (PCI)-Bus, sondern setzt auf moderne serielle Hochgeschwindigkeitsschnittstellen.
Die Spezifikation soll demnächst auf PCI Express der 4. Generation erweitert werden, erklärt Bernd Kleeberg, einer der Initiatoren des Standards. Kleeberg ergänzt: »Die neue Spezifikation ist fast fertig, wir veröffentlichen sie in naher Zukunft. Sie enthält unter anderem eine Erweiterung der Backplane-Anschlüsse auf 25- oder 40-Gigabit-Ethernet sowie der USB-Ports auf bis zu 10-Gigabit-Ethernet. Geändert wird der Anschluss für die CPU-Karte, der Formfaktor bleibt jedoch bei Horizontal Pitch (HP), somit können Entwickler Peripheriekarten wie gehabt verwenden«, erklärt Kleeberg. Zudem arbeite man bereits an der nächsten Version der Spezifikation, die PCIe bis zur 5. Generation unterstützen soll. Allerdings sei hier der Formfaktor aufgrund der Steckergröße etwas anzupassen, so Kleeberg.
»CompactPCI Serial ist der interoperable modulare Standard, der alle Ziele der PICMG vereint und erfüllt«, erklärt Jess Isquith stolz. Jedoch sei der Standard nicht so weit verbreitet, wie man sich das vorstellt. Mit der neuen Spezifikation und Version habe die PICMG die Möglichkeit, den Markt neu zu erobern. Der Standard sei lebendig und müsse lediglich technisch überarbeitet werden. Zudem gebe es eine neue Organisation, die »Open Group«, die sich um neue Applikationen für CompactPCI Serial bemüht.
»120 Unternehmen und Organisationen haben sich zusammengetan, um ein Forum für offene Prozessautomatisierung zu entwickeln und zu überlegen, wie wir in diesem Industriebereich Standards einführen können. Neue Mitglieder wie Exxon Mobil, Schneider Electric und eine Handvoll anderer, die noch nie mit der PICMG zu tun hatten, gehen hierbei mit gutem Beispiel voran. So sehen wir mehr und mehr potenzielle Anwendungen für CompactPCI Serial. Auch weitere Mitglieder beteiligen sich daran und bringen ihr Fachwissen in die neue Gruppe ein. Das ist eine sehr interessante neue Erfahrung für alle Mitgliedsunternehmen der PIGMG«, rundet Jess Isquith die Diskussionen ab.