Seit der Gründung des FBDi vor 20 Jahren gab es vier Allokationen. Im Grunde gut erforscht, entstehen Allokationen doch immer wieder, getriggert durch Panik, und bergen immense Herausforderungen. Wie gelingt es diese besser zu bewerkstelligen? Ein Erfahrungsbericht.
Mit schöner Regelmäßigkeit erleben wir Allokationen. Manche davon sind heftiger und mehr Produkte weltweit sind betroffen, manche sind etwas milder. Mal enden sie halbwegs akzeptabel, mal hinterlassen sie immense Schäden. Einige von uns haben schon mehrere erlebt und deshalb ein Muster erkannt. Jedes Mal sind jedoch auch wieder neue Akteure im Markt, die davon völlig überrascht werden – genau wie ich 1995. Viele wissen deshalb nicht, warum sie tatsächlich entstehen. Dabei ist das Phänomen seit vielen Jahrzehnten gut erforscht. Für all diejenigen, die sich dafür interessieren und wissen wollen, wie sie besser durch Allokationen kommen können, ein Erfahrungsbericht.
In den 20 Jahren seit der Gründung des FBDi gab es vier Allokationen. Seit meinem Berufsstart 1995 als Vertriebsingenieur in der Distribution sogar sechs. Damals lief gerade eine Allokation aus und ich wusste überhaupt nicht, was mir geschah. Die Preise der Bauteile fielen ins Bodenlose. Die Lager waren voll. Kaum jemand wollte etwas bestellen. Einige Jahre danach, bei der folgenden, sehr schlimmen Allokation 2000, dachte ich: „Wie jetzt? Schon wieder so etwas?“
Ein Buch im Regal
Nachdem auch das überstanden war, fand ich 2003 in unserer Heimbibliothek ein Buch, welches meine Frau während ihres Studiums von einem Professor empfohlen bekommen hatte. Mich interessierte das dicke, blaue Werk im Hardcover mit dem interessanten Namen „Die fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lernenden Organisation“.
Deshalb schlug ich es durch Zufall auf Seite 36 auf und sah dort Grafiken mit Lagerbeständen und Bezeichnungen wie „Einzelhändler“, „Großhändler“ und „Fabrik“. Dies weckte meine Neugier, da ich hoffte, etwas für die Firma lernen zu können, und ich begann sofort damit, das Buch zu lesen.
Es stellte sich heraus, dass gerade dieses eine, zufällig aufgeschlagene Kapitel eine Pflichtlektüre für alle Beteiligten in der Elektronik-Branche darstellt.
Der Autor Peter M. Senge beschreibt unter der Überschrift „Gefangene des Systems oder Gefangene unseres eigenen Denkens?“ ein Spiel, welches um 1960 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) – einer der weltweit führenden Spitzenuniversitäten – entwickelt wurde. Das sogenannte „Bierspiel“ („MIT Beer Distribution Game“).
Es handelt sich um ein experimentelles Rollenspiel, in dem die Beteiligten verschiedene Positionen in einer Verteilungskette einnehmen
(z. B. Bauteilhersteller, Distributor, Schaltungsproduzent oder – wie im Buch – Brauerei, Großhändler und Getränkeladen). Ziel dabei ist es, die Kosten der Gesamtkette möglichst gering zu halten. Da die einzelnen Parteien jedoch nur über schriftliche Bestellungen miteinander kommunizieren, wird die Aufmerksamkeit in der Regel ausschließlich auf die eigene Situation konzentriert. Die Folge ist, dass sich das System sehr schnell aufschaukelt, wie es beim Peitscheneffekt (Bullwhip Effect) bekannt ist.
Bis heute wird dieses Spiel in der Management-Ausbildung angewendet, in unserer Branche allerdings viel zu wenig. Im oben angesprochenen Buch wird die Elektronik-Lieferkette sogar explizit erwähnt, weil sie durch ihre komplexen Prozesse, vergleichbar hohen Standardlieferzeiten und nur schwer steigerbaren Produktionskapazitäten sehr anfällig für ein Aufschaukeln ist.
Das jährliche Wachstum der Distribution beträgt seit 2008, als der FBDi begann, seine wertvollen Notarzahlen zu veröffentlichen, 5,6 % (Compound Annual Growth Rate = CAGR, rote gestrichelte Linie im Diagramm). Ohne das außergewöhnliche letzte Jahr 2022 waren es sogar nur 3,1 %.
Tatsächlich vollzog sich das Wachstum der vielversprechenden Zukunftsbranche Elektronik jedoch nicht linear, sondern in Wellen. Die zwei üblichen Phasen dabei kann man salopp und sehr grob wie folgt beschreiben:
Allokationen dauern ca. 18-24 Monate. Sie sind gekennzeichnet durch lange Lieferzeiten, steigende Preise, leere Lager, hohe Umsatzsteigerungen, gute Profite, freundliche Kunden, selbstbewusste Lieferanten.
In den Zeiten dazwischen, ca. 3-5 Jahre, ist es andersherum: kurze Lieferzeiten, niedrige Preise, volle Lager, Umsatzrückgänge, Abschreibungsverluste, selbstbewusste Kunden und freundliche Hersteller.
Warum das so ist, erklärt der Autor bereits 1990 in seinem vielbeachteten Management-Klassiker, der in 20 Sprachen übersetzt und mehr als 1 Million Mal gedruckt wurde.
Ja, Sie lesen richtig. Einer der einflussreichsten Management-Vordenker der letzten 75 Jahre beschreibt 1990 ein Prinzip, das 1960 von einer Eliteuniversität entdeckt wurde. Das heißt, das theoretische Systemwissen, warum der Elektronikmarkt sich regelmäßig aufschaukelt, ist seit Jahrzehnten bekannt. Aber wir reiben uns immer wieder die Augen und diskutieren, warum es dieses Mal passiert ist, wie lange es noch dauert, ob es bald wieder losgeht bzw. ob es jetzt aber wirklich das letzte Mal war.
Die Trigger sind es nicht allein
Die vielen möglichen Auslöser von Allokationen werden genussvoll aufgezählt und durchdiskutiert. 2020-2022 waren das wahlweise oder in Summe das festsitzende Containerschiff Ever Given im Suezkanal, Schneestürme in Amerika, die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg, die Energiekrise, dadurch gestörte Lieferketten etc. pp. 1999-2001 waren es das Jahr-2000-Problem der Software (Millennium-Bug), die Euroeinführung, die Umstellung aller Automaten usw.
Für jede Allokation gibt es Auslöser. Sie sind vielfältig und kaum vorhersagbar. Aber jetzt wird es provokant. Sie sind sicher ein Teil des Phänomens, aber kaum entscheidend. Viel dominanter ist die Reaktion aller Marktteilnehmer auf diese Auslöser. Durch das Verhalten jedes Einzelnen wird die Wirkung der Trigger extrem erhöht. Erst diese Verstärkung führt – gemessen an den Auslösern – zu einem völlig übertriebenen Aufschaukeln des Gesamtsystems.
Käme ein Marsmännchen während einer Allokation auf die Erde, würde es denken: „Was machen die denn da? Es gibt ja gar nicht zu wenig Ware. Es gibt ja noch nicht mal einen so hohen Bedarf. Aber jeder bestellt gerade, was er kriegen kann, und deshalb fehlt es einem anderen. Die Erdenmenschen haben lediglich ein Verteilungsproblem.“
Was Hamsterkäufe bewirken können, haben wir alle in der Pandemie beim Toilettenpapier gesehen. Es wird wohl niemand mit vollem Ernst behaupten können, dass der Verbrauch dieses Produktes damals tatsächlich so sprunghaft angestiegen ist. Vielmehr hatten in dieser Zeit kollektiver Hysterie einige zu Hause den Keller voll und ihre Nachbarn dafür vielleicht ein echtes Problem.
Denken Sie mal darüber nach, dass vielleicht ein Jahresbedarf Ihrer heute fehlenden „Goldenen Schraube“ in einem anderen Lager liegt oder dass sie nur deshalb nicht produziert werden konnte, weil in der Fabrik andere Bauteile für irgendjemanden vorgezogen werden mussten, welche dieser dann lediglich eingelagert hat.
Bestellung und Bedarf
Wir verwechseln leider immer wieder Bestellung mit Bedarf. Die zeitliche Komponente wird dabei komplett vergessen. Bestellt ein Akteur aus eigenen berechtigten Sicherheitsüberlegungen eine Ware heute schon für sofort, die er eigentlich erst später benötigt, steigt nicht der Bedarf im Markt (was jedoch fast alle nur zu gerne glauben wollen). Bestellt er zudem längerfristiger, steigen auch dann nur die Auftragseingänge und die Bestellhorizonte, nicht aber der eigentliche Bedarf. Zumindest nicht viel mehr als im langjährigen Schnitt.
Die den hohen Auftragseingängen folgenden, oft auch deutlich höheren Umsätze fließen tatsächlich zum großen Teil in die Vorräte der vielen Lieferkettenglieder. Die pauschale Aussage „die Lager sind leer“ war nie richtig. Es waren immer nur mehr oder weniger viele einzelne Fächer leer. Teilweise lässt sich der immens ansteigende Umsatz noch durch Preiserhöhungen erklären. Ein generelles stückzahlbasiertes sprunghaftes Marktwachstum um so hohe Werte, ist jedoch gar nicht in der Breite möglich. Wo sollen die vielen zusätzlichen Fabrikhallen, Mitarbeitenden, Maschinen etc. für einen ad hoc 40 % größeren Markt denn herkommen? War die Auslastung der Industrie vor der Allokation wirklich so niedrig? Wohl kaum!
Berücksichtigt man hingegen, dass jeder in der Kette während der Euphorie ein wenig mehr bestellt – denn der Markt wächst ja gerade so toll – wird klar, dass aus einem tatsächlichen Bedarf über ein paar Stufen der Supply Chain schnell die doppelte angeblich benötigte Menge beim Hersteller ankommen kann.