Die digitale Transformation stellt die Autobranche vor große Herausforderungen. Denn die tut sich nicht nur schwer mit der Softwareentwicklung für das Auto der Zukunft. Es fehlt auch ein zukunftsfähiges digitales Businessmodell. Ein Lösungsansatz: Dienste in den Fokus rücken, nicht (nur) Daten.
Der Wandel ist nicht mehr aufzuhalten: Automobilhersteller investieren Milliardenbeträge in die Entwicklung der Software für ihre neuen Modelle. Sie folgen der Erkenntnis, dass in naher Zukunft nicht mehr der Motor der Kern eines Autos ist, sondern der Computer. Doch am Ende geht es nicht einfach um die Entwicklung eines softwaredefinierten Fahrzeugs. Es geht vor allem um die Frage, wie die Autoindustrie in Zukunft ihr Geld verdienen will. Dabei muss der Blick weg gehen von der reinen Verwertung von Daten und hin zur Implementierung von Services.
Eins ist sicher: Autohersteller werden zu Softwarefirmen. Für die Hoheit über die durch die Fahrzeuge generierten Daten braucht es eigene Softwarelösungen. Letztlich geht es dabei darum, den Kunden ihre Wünsche erfüllen zu können. Die wollen nicht mehr unbedingt ein eigenes Auto besitzen – Mobilität und Flexibilität sind die Kernbedürfnisse der nächsten Kundengeneration.
Die Herausforderungen sind enorm. Bei der Entwicklung eines neuen Betriebssystems verfolgen die deutschen Autobauer bisher unterschiedliche Ansätze. Führende Marken arbeiten an eigenen Lösungen. Ihnen sitzen die amerikanischen Tech-Giganten Apple und Google im Nacken, von deren Automotive-Lösungen sie sich keinesfalls abhängig machen wollen.
Ein selbst entwickeltes Betriebssystem zieht aber auch direkt die Entscheidung für einen Chip-Lieferanten nach sich und könnte in neue Abhängigkeiten führen, bei denen auch eingespielte Zulieferketten gefährdet werden. BMW warnte davor auf der IAA 2021 und setzt deswegen lieber auf eine flexible Middleware, so dass Software und Hardware unabhängig voneinander laufen können. Bei dieser Lösung kann der Chiphersteller auch mal gewechselt werden, ohne dass gleich alles neu programmiert werden muss.
Der Wettbewerb zwischen den Automobilherstellern dreht sich inzwischen um die besten Ideen für die Mobilität von morgen. Der Innovationsdruck in der Branche ist so hoch, dass die Angebotspalette schon jetzt über das eigentliche Geschäft mit Mobilität hinaus erweitert wird. Das funktioniert nicht immer reibungslos: Die Monetarisierung von bisher kostenlosen Funktionen stößt teilweise auf Widerstand bei den Kunden. BMW wollte im Sommer 2022 in Südkorea ein Abo für die Sitzheizung einführen, Kostenpunkt um die 18 EUR pro Monat. Der Shitstorm folgte prompt und innerhalb kürzester Zeit kündigten erste Hackergruppen an, durch Manipulationen die »Sitzheizung for free« zu ermöglichen.
Letztlich ist es nötig, die Kunden bei ihrer Kaufentscheidung zu unterstützen. Für Zulieferer bedeutet das, dass sie auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Autoproduzenten eingehen und diese strategisch bedienen müssen. Die Bedeutung von Daten ist nicht zu unterschätzen, aber Daten sind auch nicht alles.
Entscheidend ist, was mit den Daten geschieht und wie die Autoindustrie mit Drittanbietern von Serviceleistungen wie Carsharing, Flottenmanagement, Versicherungen und vergleichbaren Diensten nahtlos zusammenarbeiten kann. Die digitale Geschäftsgrundlage der Zukunft besteht für Autohersteller aus zwei Komponenten: Serviceleistungen, die (auch) von Drittanbietern bereitgestellt werden sowie den Daten, die durch diese Dienste in den Fahrzeugen generiert werden.
Das vernetzte Auto wird mit externen Services und Geräten gekoppelt und Over-the-Air mit Updates und neuen Funktionen und Features versorgt. Automobilhersteller erhöhen bereits ihre Ausgaben für Connected Services und Datenanalyselösungen. Heutzutage erzielen sie ihre Umsätze noch hauptsächlich aus dem Verkauf von Fahrzeugen. Bis 2030 wird sich der Anteil der Fahrzeuge am Gesamtumsatz jedoch deutlich verringern. Datengesteuerte Services oder auch Carsharing-Modelle werden dann einen großen Teil der Erlöse generieren.
Die Autoindustrie muss nicht zwingend neue Serviceleistungen erfinden. Viel wichtiger ist die Zusammenarbeit und Interaktion mit Drittanbietern, die bereits wissen, wie man attraktive Dienstleistungen anbietet – und zwar so, dass sie sowohl den Autoherstellern wie auch den Serviceanbietern gute Umsätze bescheren. So entwickeln sich ganz neue Geschäftsmodelle, mit denen Autohersteller neue Umsatzquellen erschließen und Ausfälle aus dem früheren Kerngeschäft kompensieren können.
Ein Beispiel für einen integrierten Ansatz ist eine Versicherungslösung, bei der das Bordsystem des Fahrzeugs Versicherungsleistungen immer genau dann aktiviert, wenn sie auch wirklich gebraucht werden. Heutzutage schließen Fahrzeughalter eine Versicherung ab, ohne zu wissen, ob der Anwendungsfall für die vereinbarten Leistungen überhaupt eintreten wird. Viele haben beispielsweise eine Auslandsversicherung, fahren während der Gültigkeitsdauer aber dann gar nicht ins Ausland.
Die Lösung der Zukunft wäre eine maßgeschneiderte Lösung, die erst dann den Versicherungsschutz aktiviert, sobald das Fahrzeug die entsprechende Landesgrenze überquert. So können Versicherungsunternehmen den Fahrzeugführern flexible Leistungen, Pakete und Empfehlungen anbieten. Das Kundenerlebnis verbessert sich, denn in der Abrechnung tauchen nur die bedarfsgerechten Versicherungsleistungen auf. Die Fahrzeugbranche wiederum profitiert von der Nutzung des Fahrzeugs und der entsprechenden Leistung und verhilft Versicherern zu einem attraktiven Neukundengeschäft – eine Zusammenarbeit, die sich für alle Seiten lohnt.
Die technische Umsetzung dieser Geschäftsmodelle für Serviceleistungen, die direkt im Auto angeboten werden, ist alles andere als leicht. Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit sind zentrale Kriterien, die erfüllt werden müssen und hohe Hürden darstellen. EPAM hat dafür in Kooperation mit dem Halbleiterhersteller Renesas die Vehicle-to-Cloud (V2C)-Plattform AosEdge entwickelt, über die Automobilhersteller und Drittanbieter zur Umsetzung solcher Transformationsinitiativen zusammenarbeiten können.
Sie ermöglicht die Orchestrierung von Diensten und die Verwaltung von Over-the-Air-Updates – die für das Fahrzeug der Zukunft genau so einfach sein müssen, wie wir es heute bereits von Smartphones gewohnt sind. Denn das Fahrzeug ist permanent mit dem Internet verbunden, und das bordeigene Computersystem dient als Edge-Computing-Knoten für cloudbasierte Services. Der große Vorteil: Die Dienste funktionieren auch dann, wenn die Kommunikation zwischen Fahrzeug und Cloud nicht durchgängig stabil ist.
Edge-Orchestrierungsplattformen sind ein unerlässlicher Bestandteil der nächsten Generation von softwaredefinierten Fahrzeugen. Kernaufgabe von AosEdge ist die Gewährleistung der Verfügbarkeit von Services und der Sicherheit des Ökosystems sowohl im Fahrzeug als auch bei Drittanbietern. Dienstleistungen von mehreren Anbietern können problemlos auch parallel genutzt werden.
Die Plattform stellt eine effiziente Methode zur Bereitstellung von Software im Fahrzeug bereit und vereinfacht die Funktionsweise verschiedener Software-Elemente innerhalb derselben Umgebung. So können OEMs echte softwaredefinierte Fahrzeuge entwickeln. Ein kontinuierlich hohes Qualitätsniveau wird durch die Plattform abgesichert und ermöglicht die Weiterentwicklung der im Fahrzeug angebotenen Serviceleistungen.
Für die Entwicklung von Plattformen dieser Art bietet sich ein Open-Source-Umfeld an: Es beschleunigt die Entwicklung und senkt die Kosten, weil die Hersteller nicht jeden Entwicklungsschritt im eigenen Hause durchführen müssen. Bereits 2021 hat die Eclipse Foundation, eine der weltweit größten Open-Source-Stiftungen mit Mitgliedern wie Bosch, Microsoft, SAP oder Oracle, eine herstellerneutrale Arbeitsgruppe für das softwaredefinierte Fahrzeug gegründet. Sie konzentriert sich auf die Entwicklung von Fahrzeugen der nächsten Generation auf Basis von Open Source.
EPAM trägt in dieser Gruppe dazu bei, die Grundlage für ein offenes Ökosystem für die Bereitstellung, Konfiguration und Überwachung von Fahrzeugsoftware zu schaffen. Diese Basis können Fahrzeugproduzenten weltweit nutzen und sich auf differenzierende Kundenmerkmale wie Mobilitätsdienste und die Verbesserung der Endkunden-Erfahrung konzentrieren.
Bei den nicht differenzierenden Elementen wie Betriebssystemen, Middleware oder Kommunikationsprotokollen können sie gleichzeitig Aufwand und Kosten sparen. Wenn die Autoindustrie die digitale Transformation ernst nimmt, muss sie sich vom Silodenken befreien und ihre Kräfte effizienter als bisher zwischen Kooperation und Eigenentwicklung aufteilen.
Alex Agizim
ist CTO Automotive & Embedded Systems bei EPAM Systems. Er verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in der Leitung von Entwicklungsteams mit Fokus auf der Erstellung von Systemarchitekturen und der Entwicklung von integrierten Systemen für die Automobil-, Unterhaltungselektronik- und Telekommunikationsbranche. Er leitet Innovationsprogramme für Automobile und vernetzte Fahrzeuge, in denen er die Entwicklung von komplexen Sicherheitssystemen auf Basis von Open-Source-Software vorantreibt.