Rein softwareorientierte Wettbewerber stellen für die traditionelle Automobilindustrie in Europa eine zunehmende Bedrohung dar. In dieser Situation bietet Open Source der Branche eine einzigartige Möglichkeit, um erfolgreich auf einen softwaredefinierten Ansatz umzustellen.
Die Automobilindustrie ist einer der wichtigsten Industriezweige in Europa, insbesondere in Deutschland. Traditionelle Erstausrüster wie Volkswagen, Mercedes-Benz und BMW sind weltweit bekannt. Sie blicken auf eine jahrzehntelange Historie zurück und beschäftigen Hunderttausende von Menschen. Doch die Automobilindustrie befindet sich im Wandel. In der Vergangenheit war die Hardware das wichtigste Verkaufsargument. Dieses Paradigma verschiebt sich nun. Software spielt eine immer wichtigere Rolle und dieser Trend wird auch in Zukunft bleiben.
Mit diesem Paradigmenwechsel haben die europäischen Hersteller bereits einige Erfahrung, zum Beispiel im Bereich Fahrzeugsicherheit. Aber für Kunden ist Sicherheit zu einem Hygienefaktor geworden: notwendig, aber nicht ausreichend. Mittlerweile wird die Nachfrage zunehmend von kundenorientierten Features bestimmt. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen europäische OEMs nicht nur ihre Entwicklungsstrategie, sondern das gesamte Entwicklungsparadigma ändern. Die Nutzung von Open-Source-Software kann helfen, dieses Ziel zu erreichen.
Für die europäische Automobilindustrie stand das Thema Innovation nie im absoluten Vordergrund, weil sie über ein gewachsenes, sehr stabiles Ökosystem mit etablierten Akteuren verfügte. Das betraf vor allem die Software, die in den Fahrzeugen enthalten war. Lange Zeit erfüllte Software den Hauptzweck, Hardware zu verkaufen ohne eigenständige Strategie oder eigenen Vermögenswert.
Das hat sich nun radikal geändert. Heute wird der Großteil der Betriebsfunktionen eines Fahrzeugs durch seine Software bestimmt. Damit ist die Software zu einem entscheidenden Differenzierungsmerkmal in der Automobilbranche geworden.
Neue Marktteilnehmer wie Tesla oder chinesische OEMs verfügen über den Vorteil, nicht auf einer jahrzehntelangen Hardware-basierten Tradition aufbauen zu müssen. Sie haben andere Markteinschätzungen und sehen beispielsweise Over-the-air-Updates (OAT) mit neuen Features und Funktionen als wichtiges Verkaufsargument für Autokäufer.
Um die Prozesse, die die Verlagerung der Hardware- hin zur Software-getriebenen Automobilindustrie mit sich bringt, zu stemmen, brauchen europäische OEMs eine gangbare Lösung, ihre Softwareentwicklung zu beschleunigen. Genau hier setzt die Arbeitsgruppe »Software Defined Vehicle« (SDV) der Eclipse Foundation an. Denn das Hauptaugenmerk dieser sogenannten Working Group (WG) liegt darin, sich auf die Entwicklung eines neuen Kooperationsmodells zu konzentrieren, das Open-Source-Software vor allem zur Innovationsbeschleunigung nutzt.
Dabei baut der Ansatz der Arbeitsgruppe auf früheren erfolgreichen Kooperationen wie der Connected Vehicle Systems Alliance (COVESA) oder der Automotive Open System Architecture (AUTOSAR) auf, geht allerdings noch einen Schritt weiter: Frühere Modelle wurden durch die Entwicklung von Normen und Spezifikationen bestimmt, die einen Konsens oder Kompromisse erforderten. Infolgedessen sind die daraus resultierenden Lösungen entweder etwas langsam oder teilweise nicht ganz ausreichend. Hingegen ist der Ansatz der SDV Working Group codegesteuert und ermöglicht so eine viel schnellere und kostengünstigere Umsetzung.
Durch den Code-first-Ansatz lassen sich Softwarekomponenten, die sich nicht differenzieren, wesentlich einfacher entwickeln und umsetzen. Mitglieder der Working Group können ihr Fachwissen und ihre Erfahrung bündeln. Auf diese Weise entstehen kommerzielle und produktionsreife Open-Source-Technologien, die eine solide Grundlage für ihre eigene Wettbewerbsposition bilden.
Der große Vorteil: Die enge Zusammenarbeit ermöglicht es jedem beteiligten Unternehmen von den Fähigkeiten und Kompetenzen der anderen Mitglieder dieser Open-Source-Gemeinschaft zu profitieren. Die Kollaboration fördert ferner die Skalierbarkeit, die aus einer freien und robusten Open-Source-Entwicklung erwächst. So kann sich jedes Unternehmen auf neue Funktionalitäten konzentrieren, die wiederum auf einer robusten, offenen Softwareplattform basieren. Diese Vorgehensweise ist wesentlich kostengünstiger und zeitsparender als der Kauf oder die Entwicklung einer eigenen Plattform.
Ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Code-first-Ansatz die Industrie bei diesem Paradigmenwechsel unterstützen kann, ist das Thema Datenschutz, denn softwaredefinierte Fahrzeuge erzeugen eine enorme Menge an Daten und natürlich legen Verbraucher großen Wert auf den Schutz ihrer persönlichen Informationen.
Der gemeinschaftliche Open-Source-Ansatz bietet die Möglichkeit, sich auch diesem Thema anzunehmen. Er ermöglicht es der Branche, sich auf eine Reihe von Sicherheitsstandards zu einigen und diese in eine kollektive Open-Source-Codebasis zu integrieren. Dadurch werden die Entwicklungskosten, die jedes einzelne Unternehmen für diese Codebasis aufwenden müsste, erheblich gesenkt. Hinzu kommt, dass ein herstellerübergreifender, einheitlicher Ansatz beim Datenschutz mehr Glaubwürdigkeit und Vertrauen schafft.
Diese Glaubwürdigkeit ist für Hersteller, die mit Drittanbieteranwendungen arbeiten, sehr wichtig. In Deutschland laufen derzeit Gerichtsverfahren, die sich mit Apps von Drittanbietern befassen, die gegen die Datenschutzgrundverordnung verstoßen, da sie IP-Adressen in andere Länder weiterleiten. Jede Art der Beteiligung von Drittanbietern birgt ein solches Risiko. Der beste Weg, dieses Risiko zu verringern, besteht somit darin, sich weniger auf die Datenschutzstandards von Drittanbietern zu verlassen.
Was systemkritische Produkte anbelangt, ist man in der EU darauf bedacht, die Abhängigkeit von anderen Regionen besser in den Griff zu bekommen: Russisches Öl, chinesische Rohstoffe und Computerchips sind hierfür nur ein paar der zu erwähnenden Beispiele.
Die Open Hardware Working Group der Eclipse Foundation arbeitet mit der offenen RISC-V-Chiparchitektur an der Entwicklung von Mikrocontrollern, die völlig ohne IP auskommen sollen. Diese Mikrocontroller würden es den OEMs in der EU ermöglichen, komplette Softwarelösungen für Fahrzeuge zu entwickeln, ohne sich um Interferenzen aus anderen geografischen Regionen der Welt sorgen zu müssen. Dieses Projekt ist ein Beispiel dafür, wie Open-Source-Software die europäische Autoindustrie zukunftssicher machen kann.
Wie Open-Source-Software die nächste Generation von Entwicklern erreicht
Auch die Ausbildung neuer Arbeitskräfte für die Zukunftssicherung der Automobilbranche zu nutzen, liegt regelrecht auf der Hand. Der derzeitige Mangel an Entwicklern wird voraussichtlich noch zunehmen. Daher muss die Branche für die nächste Generation so attraktiv wie möglich werden. Im Moment ist zu beobachten, dass sich künftige Entwickler beispielsweise eher Richtung Google als Richtung Automobilindustrie orientieren.
Der Grund dafür ist simpel. Da im Automobilsektor so wenig Open-Source-Software verwendet wird, haben Studierende kaum die Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen, geschweige denn, sich an der Weiterentwicklung oder Verbesserung der Software zu beteiligen. Wenn sie dann in die Arbeitswelt eintreten und Innovationen suchen, denken sie daher eher an Microsoft als an Mercedes.
Um dieses Problem anzugehen, hat die Software-Defined-Vehicle-Arbeitsgruppe begonnen, mit gemeinnützigen Organisationen in Frankreich und Deutschland, wie der Programmierschule 42 in Wolfsburg, zusammenzuarbeiten, die Peer-to-Peer-Training für junge Entwickler anbietet. Ziel dieser Initiativen ist es, die Open-Source-Software der Arbeitsgruppe in den Lehrplan dieser Organisationen zu integrieren. Diese Art der Kooperation bietet ein enormes Potenzial. Die frühzeitige Einbindung von Studierenden in die Arbeit mit Betriebssystemen fördert die Begeisterung für Software in der Automobilindustrie und macht europäische OEMs attraktiv als Arbeitgeber, wenn junge Entwickler im Anschluss an ihr Studium ins Berufsleben eintreten.
Software und nicht Hardware wird die Zukunft der Automobilindustrie prägen, sei es bei der Ausbildung neuer Entwickler oder bei der Definition von Standards. Dabei ist Open Source die wichtigste Säule dieser softwaredefinierten Zukunft. Europas Erstausrüster werden in Zukunft nicht mehr umhinkönnen, Open-Source-Software zu nutzen, wenn sie mit neuen Marktteilnehmern konkurrieren wollen. Denn viele ihrer Wettbewerber setzen bereits auf Software, um individuelle Marktangebote zu schaffen.
In anderen Worten: Nur durch eine innovative Neuausrichtung auf Open Source kann der europäische Automobilsektor konkurrenzfähig bleiben und seine Marktanteile erhalten. Die gemeinschaftsbasierte Open-Source-Entwicklung versetzt Europas traditionelle OEMs in die Lage, ihre Softwareentwicklung für die Automobilindustrie zu beschleunigen und dennoch Raum für neue eigene Entwicklungen zu lassen. Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass Open-Source-Software eine sinnvolle, marktgerechte und markenspezifische Differenzierung wesentlich schneller und kostengünstiger ermöglicht als bisherige Entwicklungsmodelle.
Nach Unterlagen der Eclipse Foundation