Alle Versuche, ein sicheres Linux für die Autoindustrie zu entwickeln, scheiterten bisher. Ein neuer Ansatz trennt die Funktionen für die Betriebssicherheit vom Betriebssystem, löst so die größten Probleme bei der Zertifizierung und erlaubt es, Open-Source-Betriebssysteme fürs SDV bereitzustellen.
Der Einsatz von Open-Source-Software (OSS) für Software-Defined Vehicles (SDVs) könnte der Automobilbranche Entwicklungs- und Lizenzkosten in Milliardenhöhe ersparen, die Markteinführung neuer Modelle deutlich beschleunigen und insgesamt die Produktivität im Fahrzeugbau erhöhen. Vor allem das quelloffene Betriebssystem Linux mit seinem großen Ökosystem an Entwicklern, Tools und Bibliotheken bietet den Automobilherstellern neue Möglichkeiten, Probleme gemeinsam zu lösen und die Iterationszyklen zu beschleunigen.
Derzeit tut sich die Automobilindustrie allerdings noch schwer mit der Zusammenarbeit. Eine traditionelle, wenig flexible Softwareentwicklung und lange Lieferketten machen die Prozesse schwerfällig und komplex. Selbst kleine Änderungen dauern ewig und müssen viele Schritte durchlaufen. Die gemeinsame Arbeit am Quellcode ist jedoch der einzig gangbare Weg, um schneller zu werden und im Wettbewerb nicht zurückzufallen.
Aufgrund der strengen Anforderungen an die Betriebssicherheit (Safety) spielen Open-Source-Betriebssysteme im Automobil bisher nur beim Car Infotainment eine nennenswerte Rolle. Alle Bemühungen, ein allgemeines Linux-basiertes Betriebssystem für SDVs zu entwickeln, sind gescheitert. Das liegt vor allem an dem Versuch, Funktionen für die Betriebssicherheit direkt in Linux zu integrieren. Ein solches Betriebssystem müsste bei jedem Update oder Cybersecurity-Patch erneut auf Betriebssicherheit geprüft und zertifiziert werden.
Wenn jede Änderung eine komplette Neuzertifizierung des Systems erfordert, dauern Updates, Fehlerbehebungen und die Integration neuer Funktionen sehr lange und werden enorm teuer. Vor allem bei sicherheitskritischen Patches, die sofort eingespielt werden müssen, ist diese Vorgehensweise nicht akzeptabel. Darüber hinaus müssten Gerätetreiber und andere Softwarekomponenten, die im Zusammenhang mit dem Linux-Kernel ausgeführt werden, in die Zertifizierung einbezogen werden, was die Integration spezieller, automobilspezifischer Treiber erschwert.
Es gab daher immer wieder Initiativen die Safety-Standards so umzuschreiben, dass sie von Linux ohne ständige Neuzertifizierung erfüllt werden können. Das ist jedoch der falsche Weg. Etablierte Standards für die Betriebssicherheit dürfen nicht geopfert werden, nur um eine ständige Rezertifizierung zu vermeiden.
Die Open-Source-Lösung EB corbos Linux for Safety Applications zeigt, dass es auch anders geht. Sie lagert die Funktionen für die Betriebssicherheit in eigenständige Anwendungen aus, die auf bewährten Safety-Konzepten beruhen. Eine Hypervisor-Schicht überwacht die Kommunikation zwischen den Applikationen und dem auf Ubuntu aufbauenden EB corbos Linux. Die OSS-Lösung stellt die räumliche und zeitliche Integrität der für die Betriebssicherheit relevanten Parameter sicher, überwacht den Startvorgang der Anwendungen und managt die Shared-Memory-Kommunikation zwischen Betriebssystem und Applikationen. Damit können Automobilhersteller und Zulieferer Linux auch in sicherheitskritischen Anwendungen wie Fahrerassistenzsystemen oder für die Entwicklung autonomer Fahrzeuge einsetzen.
Der TÜV Nord hat EB corbos Linux for Safety Applications auf Basis von ISO 26262 ASIL B die technische Machbarkeit für das Safety Element Out of Context (SEooC) bescheinigt. Damit handelt es sich um die erste und einzige Open-Source-Lösung auf dem Markt mit einer solchen Einstufung. Durch die positive Bewertung für das SEooC muss bei Änderungen an einem Safety-Element nicht jedes Mal die gesamte Systemfunktion neu validiert werden. Darüber hinaus entspricht das Safety-Element von EB corbos der Norm IEC 61508 SIL 2 und ist somit auch für sicherheitskritische Anwendungsfälle außerhalb der Automobilbranche einsetzbar, etwa im Gesundheitswesen, im Maschinenbau oder im Energiesektor.
Da Linux aus dem Zertifizierungsprozess herausgenommen wurde, kann die neue OSS-Lösung Sicherheitspatches und neue Funktionen aus der Open-Source-Community problemlos in Safety-relevante Systeme einbinden, ohne dass eine aufwendige Neuzertifizierung erforderlich ist. Entwicklung und Wartung werden dadurch deutlich kostengünstiger und effizienter. Um der langen Lebensdauer eines Fahrzeugs Rechnung zu tragen, gewährleistet der Hersteller einen Long-Term-Support von bis zu 15 Jahren. So ist sichergestellt, dass das Betriebssystem über die gesamte Nutzungsdauer eines Fahrzeugs sicher und stabil betrieben werden kann.
Eine Open-Source-Lösung wie EB corbos bietet gegenüber proprietären Betriebssystemen eine Reihe von Vorteilen:
Open-Source-Lösungen reduzieren außerdem den Bedarf an Spezialistinnen und Spezialisten. Auch verringern sie den Kommunikationsaufwand in der Entwicklung. Statt separate technische Teams für die Anwendungsentwicklung und das proprietäre Betriebssystem rekrutieren, weiterbilden und synchronisieren zu müssen, können Unternehmen auf die im Vergleich besser verfügbaren Linux-Experten zurückgreifen.
Für die Automobilindustrie bedeutet die Entwicklung eines einfach einzusetzenden Open-Source-Betriebssystems einen revolutionären Schritt nach vorn. Schon bald werden mehr und bessere Software-Defined Vehicles auf den Straßen unterwegs sein. Ähnlich wie ein Smartphone erhalten diese Fahrzeuge über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg Over-the-Air-Updates, die von den Herstellern schnell und kostengünstig bereitgestellt werden können. Die Zukunft der Software-definierten Mobilität hat begonnen.
Dr. Moritz Neukirchner
ist Senior Director und strategischer Leiter des Bereichs Software-definierte Fahrzeuge bei Elektrobit. Als Leiter der Produktlinien Classic und Adaptive AUTOSAR von Elektrobit hat Neukirchner den technologischen Wandel in der Automobilindustrie mitgestaltet, zum Beispiel mit der Markteinführung des ersten Hochleistungssteuergeräts mit Adaptive AUTOSAR und indem er die breite Einführung von Multi-Core-Architekturen in Classic AUTOSAR vorantrieb. Als früheres Mitglied des Adaptive AUTOSAR Architecture Board (TF-ARC) durfte er zur technologischen Definition des Industriestandards beitragen. Neukirchner studierte Elektrotechnik an der Universität Braunschweig und promovierte im Bereich Echtzeitsysteme.