Ab 2029 müssen alle neuen PKWs und leichte Nutzfahrzeuge in den USA mit einem Notbremsassistenten (AEB) ausgestattet sein. Paul Dentel, Staff Product Manager für Radar Systems bei Ambarella, ist überzeugt, dass dies die OEMs vor Probleme stellt, dass es aber auch schon eine Lösung hierfür gibt.
Markt&Technik: Die NHTSA macht in den USA den erweiterten Notbremsassistent zur Pflicht.
Paul Dentel: Ja, aus meiner Sicht ein mutiger Schritt der Regulierungsbehörden in Washington, um die Öffentlichkeit zu schützen – aber durchaus sinnvoll. Ich lebe in Texas, wo jeder einen schweren Pickup fährt. Ich war früher ein begeisterter Radfahrer und wurde einmal von einem Auto angefahren. Und ich bin wirklich froh, dass es ein kleiner SUV war, denn ich rollte über die Motorhaube und vom Dach des Fahrzeugs. Wäre es ein großer Pick-up gewesen, wäre ich jetzt tot, weil ich überrollt worden wäre.
Ich denke, dass die NHTSA versteht, dass Amerikaner gerne größere Fahrzeuge kaufen. Problematisch dabei ist nur, dass das im Endeffekt auch zu mehr Todesfällen führt, da die Motorhauben jedes Jahr noch höher werden. Dementsprechend ist die NHTSA-Vorgabe richtig, aber auch eine große Herausforderung für die Automobilhersteller. Es gibt durchaus OEMs in Amerika, die behaupten, dass es nicht möglich ist, diese Vorgaben zu erfüllen. Ich wiederum bin überzeugt, dass es möglich ist, die OEMs müssen allerdings in die Entwicklung von Technologien investieren.
Was heißt das?
Ich denke, dass die OEMs in eine leistungsfähigere Perception investieren müssen, um sicherzustellen, dass ihr AEB-System in einem breiten Spektrum von Tests funktioniert. Das heißt, dass es nicht mehr funktioniert, wenn ein OEM einfach den billigsten, kosteneffizientesten Sensor auf dem Markt kauft.
In Europa gibt es die NCAP-Sternebewertung, das heißt, wenn ein OEM hier gut abschneiden will, muss er entsprechende Fahrerassistenzsysteme in seinem Fahrzeug implementieren. Aber das ist kein Muss – und das ist ein großer Unterschied. Mit der neuen NHTSA-Gesetzgebung müssen alle Fahrzeuge in den USA, die ab September 2029 als Neuwagen auf die Straße kommen, ein verbessertes AEB-System aufweisen, und dieses AEB-System muss ein Kollisionswarnsystem enthalten. Die neue Norm schreibt vor, dass alle Fahrzeuge in der Lage sein müssen, bis zu einer Geschwindigkeit von 62 Meilen pro Stunde anzuhalten und eine Berührung mit einem vorausfahrenden Fahrzeug zu vermeiden, und dass die Systeme Fußgänger sowohl bei Tageslicht als auch bei Dunkelheit erkennen müssen. Darüber hinaus schreibt die Norm vor, dass das System bis zu einer Geschwindigkeit von 90 Meilen pro Stunde automatisch bremst, wenn ein Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug unmittelbar bevorsteht, und bis zu 45 Meilen pro Stunde, wenn ein Fußgänger erkannt wird.
Auch in der EU ist seit Juli 2024 ein Notbremsassistent für die Neuzulassung von PKWs und leichten Nutzfahrzeugen gefordert, die Anforderungen sind aber nicht so hoch wie in den USA, denn hier geht es um ein Kollisionswarnsystem. Aber die Technologien, die Sie angesprochen haben, sind nicht neu; wo liegt also das Problem?
Die Verordnung gilt für jedes Fahrzeug, damit werden die Kosten zum Problem, insbesondere für Fahrzeuge, bei denen der Preis eine größere Rolle spielt. Betrachten wir das Ganze aus der Perspektive eines OEM. Er hat mehrere Optionen, ein AEB-System zu realisieren. Aus meiner Sicht lässt sich das Problem aber am leichtesten mit einem hochleistungsfähigen Radarsensor, dessen Daten zentral verarbeitet werden, und einem monokularen Kamerasystem lösen.
Die NHTSA hat die Kosten für OEMs geschätzt, die bei der Erfüllung der AEB-Anforderungen anfallen. Seltsam dabei ist, dass nur die Software-Kosten für 95 Prozent der Fahrzeuge berücksichtigt wurden. Natürlich kann man neue Software auf ein System aufspielen, aber letztendlich ist es die Kombination aus Software und Hardware, die zusammenarbeitet und die Leistung bestimmt. Ein Computer aus dem Jahr 1990 wird immer nur die Leistung eines Computers aus dem Jahr 1990 erbringen. Ich denke, diese Berechnungen basieren auf Unternehmen wie Tesla, die in ihren Fahrzeugen eine sehr, sehr große Zentraleinheit haben, die typischerweise in der Lage ist, viele Daten zu verarbeiten. Das bedeutet, dass andere Hersteller mit kleineren Prozessoren in ihren Fahrzeugen dies derzeit nicht können.
Moderne Fahrzeuge von anderen OEMs sollten ebenfalls über den Spielraum aufseiten der Rechenleistung verfügen, um große Datenmengen zu verarbeiten.
Ja, aber darum geht es nicht, denn die Umsetzung der Verordnung ist sowohl eine Hardware- als auch eine Softwarefrage. Wenn die Datenverarbeitung für die Wahrnehmung ausschließlich im Zentrum des Fahrzeugs stattfinden würde, wäre ein reiner Software-Ansatz möglich. Aber bei 99,9 Prozent der heute auf dem Markt erhältlichen Radarsysteme findet die Verarbeitung im Edge statt. All diese Radarsysteme verarbeiten ihre Daten in der Stoßstange des Fahrzeugs. Diese Systeme sind zwar äußerst kostengünstig, aber auch ineffizient. Meiner Meinung nach ist es absolut unmöglich, diese Systeme so aufzurüsten, dass sie in Zukunft die NHTSA-Anforderungen erfüllen können, insbesondere für die anspruchsvolleren Szenarien, die in der Verordnung festgelegt sind.
Die anspruchsvollen Szenarien sind das Problem. Kann ein einfaches Radar ein AEB bei 90 Meilen pro Stunde durchführen? Ja. Kann ein einfaches Radar ein AEB bei 45 Meilen pro Stunde durchführen, wenn ein Fußgänger neben zwei Leitplanken den linken Reifen wechselt? Nein.
Nehmen wir an, wir fahren auf der Autobahn und das Fahrzeug muss in der Lage sein, Hindernisse in großer Entfernung zu erkennen. Ein typisches L2+-Fahrzeug verfügt über fünf Radarsensoren und eine Monokamera. Auf der Autobahn werden die beiden vorderen Eckradare nicht voll ausgenutzt, da der Fokus auf dem nach vorne gerichteten Radar und der Überwachung des toten Winkels liegt, um ein sicheres Spurwechseln zu gewährleisten. Warum nicht die Verarbeitungskapazitäten der beiden vorderen Eckradarsensoren nutzen, damit das nach vorne gerichtete Radar weiter entfernte Objekte erfassen kann?
Und eines ist klar: Die Entwicklung geht in diese Richtung, insbesondere auf den asiatischen Märkten.
Und wer kümmert sich um diese Umverteilung der Ressourcen?
Das müssen die OEMs selbst bestimmen, sie müssen entscheiden, welche Software sie kontrollieren wollen, insbesondere bei der Wegplanung, der Fahrzeugdynamik und der Auslösung des AEB-Systems. Denn klar, ein Fahrer eines Mercedes-Benz-Fahrzeugs erwartet eine andere Erfahrung als ein Fahrer eines Kleinwagens.
In Deutschland und Europa wurde sogar über die zugrunde liegenden Betriebssysteme diskutiert, ich würde sagen, dass es vielen OEMs schwerfällt zu entscheiden, welche Software wirklich entscheidend ist.
Aber ich würde sagen, dass immer mehr OEMs erkannt haben, dass das Thema nicht so einfach ist, wie sie zunächst dachten, und anfangen, umzudenken. Klar, die Frage, welche Software wirklich entscheidend für das eigene Branding ist, ist ein wichtiges Thema. Deshalb setzen wir auf einen »Grey-Box«-Ansatz, das heißt, wir sind offen, dass die OEMs unsere Technologie so nutzen, dass sie ein maßgeschneidertes Erlebnis für ihre Kunden schaffen können.
Aber um es ganz klar zu machen: Wenn ein Radar von einem Anbieter, eine Kamera von einem anderen Anbieter und die Software von einem dritten Anbieter genutzt wird und das alles in ein System mit geringer Latenzzeit integriert werden muss, wird es wirklich schwierig.
Meiner Meinung nach zwingen die regulatorischen Anforderungen in den USA die OEMs zum Umdenken, da sie ein fortschrittliches AEB-System nicht nur in ihren High-End-Fahrzeugen, sondern in allen Fahrzeugen implementieren müssen, was bedeutet, dass sie diese Anforderungen auf kostengünstige Weise umsetzen müssen. Und das ist nicht so einfach; ich würde sagen: Mit der heute verwendeten Software und Hardware in Fahrzeugen, bei denen der Preis eine große Rolle spielt, ist das unmöglich.
Sehen Sie sich 3D-Radarsysteme als nach vorne gerichtete Radare an, mit denen die meisten Fahrzeuge heute ausgestattet sind. Sie erhalten Informationen über Azimut, Entfernung und die Geschwindigkeit des Ziels. Aber diesen Radarsystemen fehlt die Empfindlichkeit und die Höheninformation, um zu erkennen, was in der Umgebung passiert, und um diese Vorschrift zu erfüllen. Nur ein Beispiel: Gemäß der NHTSA-Vorschrift sollte ein Radarsystem in der Lage sein, einen Fußgänger mit hoher Sicherheit zu klassifizieren. Ein 3D-Radar kann dies nicht leisten. Nun könnte man sagen: Sensorfusion hilft, also können die installierten Monokular-Kameras zur Klassifizierung dieses Fußgängers verwendet werden. Das Problem ist, dass dieses System auch bei Nacht funktionieren muss.
Hier könnte eine Infrarot-Kamera helfen.
Ja, das stimmt natürlich. Soweit ich weiß, gibt es jedoch nur wenige OEMs und Tier-Ones, die Infrarotkameras verwenden, weil niemand dafür bezahlen will. Alle zusätzlichen Kosten sind unerwünscht. Es ist viel einfacher, einen Sensor zu verwenden, der bereits im Fahrzeug vorhanden ist, um eine größere Funktionalität zu erreichen, als einen neuen Sensor in das Fahrzeug einzubauen.
Wie ich bereits sagte, halte ich die Kombination eines nach vorne gerichteten Satellitenradarsensors mit einer monokularen Kamera für die beste derzeit auf dem Markt erhältliche Lösung. Die Daten werden an eine zentrale Verarbeitungseinheit weitergeleitet, idealerweise an die CV3-AD-SoCs von Ambarella. So kann auch ein preiswerter Radarsensor verwendet werden, da er keine Berechnungen durchführen muss. Die Fusion der Sensordaten findet dann in der Zentraleinheit statt. Ich glaube auch, dass eine Wärmebildkamera in Kombination mit einem Satellitenradar eingesetzt werden kann, um die Regulierung auf die gleiche Weise anzugehen.
Warum sollte sich ein OEM für Ambarella entscheiden?
Ambarella bietet klare Vorteile. Unsere zentralisierte Radararchitektur benötigt deutlich weniger Antennen, und das dank unserer Oculii-AI-Radaralgorithmen, die über die einzigartige Fähigkeit verfügen, Radarwellenformen an die Umgebung anzupassen. Dadurch werden einerseits deutlich weniger Daten generiert, während gleichzeitig die Winkelauflösung und die Empfindlichkeit des Radarsystems verbessert werden. Und dank der geringeren Datenmenge verringert sich auch die Bandbreite, die für die zentrale Verarbeitung der Rohdaten benötigt wird. Wenn mehr Antennen verwendet werden, können die erzeugten Daten nicht durch das Fahrzeug transportiert werden. Ich glaube daher, dass es mit unserem Ansatz in Zukunft auch möglich sein wird, kleine Fahrzeuge, die kostensensibel sind, mit einem erweiterten AEB-System auszustatten.
Ambarella bietet Software und Hardware. Ist die Software für die Hardware von Ambarella optimiert oder kann ein Entwickler zum Beispiel Ambarella-Chips mit eigener Software verwenden?
Die Radarsoftware von Ambarella liefert die Informationen, die der OEM benötigt. Einige OEMs wollen Objekte, andere wollen vielleicht eine Punktwolke, ähnlich wie bei einem Lidar-System. Wir können beides liefern. Aber mit Blick auf diese neue Verordnung würde ich empfehlen, die Punktwolke in Betracht zu ziehen, da sie sehr detailliert ist und mehr Informationen enthält als jede andere Lösung auf dem Markt. Von dort aus helfen wir den OEMs, diese Systemarchitektur in ihren Fahrzeugen zu realisieren.
Und das ist nur für das Radarsystem. Wir haben auch den Ambarella-Software-Stack für autonomes Fahren, der unsere fortschrittliche Computer-Vision-Technologie zusammen mit unserer Oculii-Radartechnologie und Sensor-Fusion beinhaltet. OEMs können diese Software nutzen oder ihre eigene entwickeln. Unser flexibler Ansatz macht es den OEMs leichter, die Teile zu verwenden, die sie benötigen.
Wir sind also für alles offen und zwingen keinen Kunden in eine bestimmte Richtung. Wir empfehlen jedoch eine Kombination aus Hardware und optimierter Software, um die beste Lösung für die Gesamtwahrnehmung zu erhalten. So lassen sich optimierte, energieeffizientere und leistungsfähigere Systeme realisieren. Ich denke, dass es für OEMs sehr schwierig wäre, dieses zentralisierte Radarsystem ohne einen Ambarella-CV3-AD-SoC und die dazugehörige Software zu replizieren.
Kann Ambarella Daten vorlegen, die belegen, dass die Kombination besser ist als andere Ansätze auf dem Markt?
Wir verfolgen einen anderen Ansatz: Typischerweise laden wir interessierte Kunden in unsere Forschungs- und Entwicklungseinrichtung in Parma (Italien) ein. Dort setzen wir sie in eines unserer autonomen Forschungs- und Entwicklungsfahrzeuge und demonstrieren die Leistungsfähigkeit unseres Ansatzes. Nach einer Fahrt zeigen wir, wie unsere Chips eingesetzt werden und wie wir die Technologie nutzen, um z. B. einen 200 Meter entfernten Fußgänger zu erkennen. Wir glauben, dass sich unser Ansatz stark von anderen auf dem Markt unterscheidet, die sich nur auf Spezifikationen aus Datenblättern beziehen. Wir ziehen es vor, über Anwendungsfälle in der automobilen Wahrnehmung zu sprechen.