Die Auto-Branche wird durch die Elektrifzierung und Digitalisierung von Fahrzeugen in ihren Grundfesten erschüttert. Bereits einzeln betrachtet, haben beide Phänomene das Potenzial, um einen Wandel herbeizuführen. Kombiniert man sie jedoch, wird klar: Die Industrie muss sich komplett neu ausrichten.
Die Neuausrichtung muss schnellstmöglich geschehen, denn sowohl der regulatorische Druck als auch die Nachfrage seitens der Verbraucher:innen steigt stetig. Man kann sagen: Wir befinden uns aktuell an der Schwelle zu einer neuen Ära der Automobilindustrie.
Weltweit setzen sich Autohersteller ehrgeizige Ziele für die Produktion von reinen Elektrofahrzeugen: So plant Honda, bis 2040 ausschließlich Elektrofahrzeuge anzubieten; GM kalkuliert mit einer Umstellung bis 2035 und Mercedes bis 2030. Zahlreiche weitere Hersteller verfolgen ähnliche Bestrebungen bei ihren hybriden und Elektrofahrzeug-Flotten. Die Digitalisierung der Wagen erfolgt dabei parallel. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Wandel einhergeht, ist fast nicht zu glauben – bedenkt man, dass diese ambitionierten Ziele der Hersteller eine Art Reset der Lieferketten, der Produktion und des Betriebs erfordern.
Die Ziele sind anspruchsvoll. Doch: Nur weil ein Unternehmen sich zum Wandel verpflichtet, heißt das noch lange nicht, dass es dafür auch tatsächlich bereit ist. Was sind also die Möglichkeiten und Auswirkungen für Automobilproduzenten in einer vollständig elektrischen, digitalen und autonomen Zukunft?
Ursprünglich wurde der Verbrennungsmotor (Internal Combustion Engine / ICE) als recht einfach angesehen: Kleine Verbrennungen von Benzin oder Diesel treiben die Leistung durch den Antriebsstrang zu den Rädern.
Diese Einfachheit wurde mittlerweile neu definiert: Der durchschnittliche Antriebsstrang von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor besteht mittlerweile aus mehr als 2000 Teilen – in einem Elektrofahrzeug sind es lediglich noch etwa 20 Teile.
Dieser seismische Wandel führt jedoch zu einer weitreichenden Disruption in der Fertigung. Autohersteller müssen den Umfang der benötigten Lieferkette völlig neu bewerten – nicht nur in Bezug auf die Anzahl der Zulieferbetriebe, sondern auch auf den erforderlichen Reifegrad. Die Komplexität der Teile und die für deren Entwicklung, Unterstützung und Wartung erforderliche Technik ist nun deutlich geringer.
Ebenso sind für die Entwicklung von Elektrofahrzeugen neue Kompetenzen notwendig: So verlagern sich die Anforderungen beispielsweise von der Mechatronik hin zu Batteriechemie sowie zu Elektro- und Motorentechnik.
Allein diese beiden Faktoren bedeuten einen radikalen Wandel zwischen dem, was die Automobilindustrie heute kann, und dem, was sie in Zukunft können muss. Möglich wird das nur, wenn die Branche sich auf die sogenannte Computing-Revolution einlässt – und damit das Software-Zeitalter einläutet.
Fahrzeuge werden heute nicht mehr rein nach ihren mechanischen Kapazitäten bewertet. Vielmehr werden digitale Möglichkeiten immer wichtiger: Computerchips sind mit immer höherer Leistung verfügbar. Sensoren werden zunehmend miniaturisiert. Und Konnektivität wird mit 4G und 5G beschleunigt.
Die Computing-Revolution führt dazu, dass intelligente Fahrzeuge vielmehr sind als »nur Autos«. Ähnlich verhält es sich bei Smartphones, die mit der eigentlichen Funktion des Telefons nicht mehr viel gemein haben. Doch: Auch wenn sich Fahrzeuge vielleicht nie ganz so weit von ihrem ursprünglichen Verwendungszweck entfernen werden wie Smartphones, wird aus Sicht des Betriebssystems eine Schwelle überschritten.
Das Betriebssystem eines Fahrzeugs steuert nun die wichtigsten Funktionen: Motor- und Karosseriesteuerung, Cockpit-Erlebnis, Infotainment-Systeme und Navigation. All diese Funktionen ähneln mehr und mehr der besten auf dem Markt verfügbaren Unterhaltungselektronik – die 5G-Revoution treibt dies zusätzlich stark voran.
Mit diesem neuen digitalen Standard begeben sich Automobilhersteller auf ein neues Terrain:
Bisher haben Autohersteller während des gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeugs keinen direkten Kontakt mit Kunden. Vielmehr gibt es Marketing-, Vertriebs-, Finanz- und Serviceabteilungen, die alle unabhängig voneinander arbeiten, um die Kunden je nach Kaufphase zu betreuen.
Doch der Markt verändert sich zunehmend hin zu einen Direct-to-Consumer-Fahrzeugverkauf – und damit verändern sich auch die Erwartungen der Verbraucher. Denn die Konsumenten erwarten ein nahtloses Kauferlebnis. Und zwar bereits von dem Zeitpunkt an, an dem sie über ein Auto nachdenken, bis hin zum endgültigen Kauf und während des gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeugs.
Darüber hinaus stellen immer mehr Automobilhersteller ihre Umsatzmodelle von einmaligen Verkäufen auf kontinuierliche Abomodelle um – bei denen die Customer Journey unbedingt reibungslos und zufriedenstellend verlaufen muss. Dies gilt insbesondere, weil softwaredefinierte Fahrzeuge die Möglichkeit für digitale Upgrades – und damit auch mehr Umsatz – bieten.
Die Qualität der Software, die Widerstandsfähigkeit des Ökosystems, die Auswirkungen auf die Umwelt und das Markenerlebnis werden in Zukunft die Marktbewertung von Automobilunternehmen maßgeblich bestimmen. Die Hersteller müssen die Chance ergreifen, eine neue Beziehung zur Fahrzeugproduktion und -verwaltung aufzubauen – diese Beziehung geht über das reine Fahrerlebnis hinaus und betrachtet das Fahrzeug als Plattform und Aushängeschild für ein neues digitales Ökosystem. Wie dieses digitale Ökosystem letztendlich aussehen wird, hängt vom kollektiven Denken der innovativen, talentierten Teams ab, die die Branche rekrutiert und aufbaut.
Aditya Pathak
ist Vice President & Head of Automotive, Transportation and Logistics bei Cognizant.