Mit einem neu konzipierten Rheometer lassen sich erstmals Lacke beim Trocknen »beobachten« – Vorbild war die Fledermaus mit ihrer Echo-Ortung.
Zum ersten Mal können jetzt folgende Fragen beantwortet werden:
Warum es wichtig ist, die Antworten auf diese Fragen zu kennen, erklärt Dr. Fabian Seeler: »Bisher mussten Lackierer in kosten- und zeitintensiven Trial-and-Error-Versuchen ausprobieren, wann eine Lackschicht optimal verläuft.«
Das führt bisher zu gravierenden Nachteilen: teure Testläufe sind erforderlich, die Entwicklung neuer Lacke dauert Jahre und kostet Millionen von Euros. Um genau zu ermitteln, was wirklich bei der Trocknung geschieht und auf den Prozess Einfluss nehmen zu können, hat Fabian Seeler er im Rahmen des Projekts PaintVisco am Fraunhofer IPA ein Simulationsprogramm erarbeitet, mit dem sich die Eigenschaften von Lacken virtuell bestimmen lassen.
Diese PaintVisco-Simulationen werden künftig Hersteller dabei unterstützen, den Verlauf ihrer Lacke schon im Entwicklungsstadium zu optimieren, neue Produkte schneller auf den Markt zu bringen und sie mit Zusatzinformationen für Anwender zu versehen. Damit kommen sie schneller zu optimalen Ergebnissen – Vorteile, die in Zeiten von steigenden Gas- beziehungsweise Strompreisen und Personalmangel wettbewerbsentscheidend sein können.
Wie groß die Bedeutung der Projektergebnisse und die PaintVisco-Simulationen für die Industrie sind, zeigen bereits Preise: Dr. Fabian Seeler betreute die studentische Abschlussarbeit von Nicolas Keinath. Sie wurde mit dem vom Lackhersteller Mankiewicz gestifteten Absolventenpreis der Hochschule Esslingen ausgezeichnet. Zusammen mit Dr. Oliver Tiedje erhielt Seeler außerdem den Lackchemie-Preis der Gesellschaft Deutscher Chemiker.
Doch nun zum Kern der PaintVisco-Simulationen: Zunächst stellte es für Seeler und für sein Team eine echte Herausforderung dar, die Eigenschaften von Lacken virtuell zu bestimmen. Denn Lacke sind viskoelastisch. Dies bedeutet, dass sie – abhängig von Zeit und Temperatur – ihre Eigenschaften verändern: Zunächst verhalten sie sich eher wie Flüssigkeiten, später eher wie Feststoffe. Die Viskoelastizität wiederum ist entscheidend für die Prognose des Verlaufs, also der Fähigkeit eines Lacks, Unebenheiten auszugleichen – das können oberflächliche Pinselspuren sein, aber auch Poren, Wellenstrukturen und Kanten unter der Lackschicht.
Um dieses sehr komplexe Verhalten von Lacken zu simulieren, sind eine Fülle von Daten erforderlich. Die Messgeräte, die sie liefern sollen, heißen Rotationsrheometer. Sie ermitteln die Fließfähigkeit von Lacken, indem sie eine dünne flüssige Lackprobe mit einer aufgesetzten Scheibe in Drehung oder Schwingung versetzen und dann messen, welche Kraft für die Verformung nötig ist. »Bisherige Geräte verhindern jedoch das Abdampfen der Lösungsmittel, die Ergebnisse sind daher für die Lackindustrie nur eingeschränkt aussagekräftig. Außerdem zeigen solche Messungen immer nur einen kleinen willkürlich gewählten Ausschnitt aus dem Materialverhalten, da oft nur mit einer einzigen Schwingungsfrequenz gemessen wird«, erklärt Seeler. Für rechnerische Verlaufsprognosen benötige man jedoch sehr viel umfangreichere Informationen über das Materialverhalten, beispielsweise das Verhalten einer Lackprobe bei zahlreichen Frequenzen.
Gemeinsam mit seinem Team hat er eine neue Messtechnik entwickelt. Dabei stand die Natur Pate: »Das Messprinzip haben wir bei der Fledermaus abgeguckt«, erinnert sich der Forscher. Die Fledermaus nutzt kurze Ultraschall-Rufe für die Orientierung: Jeder Ruf enthält – fließend ineinander übergehende – niedrige und hohe Frequenzen, die von der Umgebung reflektiert werden. Am Echo erkennt die Fledermaus beispielsweise, wo sich Hindernisse oder Beutetiere befinden. Indem der Ruf wiederholt wird, kann die Fledermaus verfolgen, wie sich der Abstand zu einem Hindernis mit der Zeit verändert oder wie sich das Beutetier bewegt.
Das neue PaintVisco-Rheometer arbeitet – genauso wie die Fledermaus – mit fließend ineinander übergehenden Frequenzen. Variiert werden dabei allerdings nicht Ultraschall-Rufe, sondern die Frequenzen, mit denen die Lackprobe verformt wird. Durch Wiederholung der Abfolge von Frequenzen lässt sich die Veränderung der viskoelastischen Lackeigenschaften beim Abbinden erfassen. Durch diese besondere Signalform sei es möglich, alle für die Verlaufsprognose benötigten Daten innerhalb kürzester Zeit zu ermitteln, betont Seeler.
»Unsere Messungen haben gezeigt, dass sich mit der multifrequenten Messtechnik die Veränderung der viskoelastischen Eigenschaften der Lackschicht über den gesamten Lackierprozess – vom Auftragen über das Trocknen bei Raumtemperatur bis zum Vernetzen in einem Ofen – ermitteln lässt«, berichtet Seeler. »Mithilfe dieser Daten können wir jetzt nicht nur die Veränderungen der verlaufsbestimmenden Materialeigenschaften einer Lackschicht während des Abbindens nachvollziehen, sondern auch digitale Verlaufsprognosen erstellen und optimierte Lackeigenschaften ableiten – egal ob die Lackoberflächen mit dem Pinsel oder mit einem Zerstäuber erzeugt wurden.«
Braune Langohrfledermaus beim Falterfang: Wie sie, so arbeitet das neue PaintVisco-Rheometer mit fließend ineinander übergehenden Frequenzen. Das führt dazu, dass neue Lacke ressourcenschonender und kostengünstiger als bisher entwickelt werden können.