Kalibrierprozesse neu definiert

Kalibrierung zwischen Normung, Digitalisierung und Innovation

25. November 2025, 7:54 Uhr | Jan-Christoph Pakusa, Reichelt Elektronik
© Gossen Metrawatt / Reichelt Elektronik / Componeers

Für die Qualitätssicherung sind präzise kalibrierte Geräte essenziell. Doch steigende regulatorische Anforderungen, wirtschaftlicher Druck und digitale Prozesse erhöhen den Aufwand. Vor welchen Herausforderungen stehen Unternehmen – und welche Ansätze machen Kalibrierung effizient und zukunftsfähig?

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Zuverlässige Messungen sind das Rückgrat der Qualitätssicherung in der Elektronikbranche – doch sie sind nur so gut wie die Kalibrierung der eingesetzten Messgeräte. Gleichzeitig ist auch die Qualitätssicherung im Wandel: Unternehmen sehen sich mit steigenden Anforderungen an Sicherheit, Konformität und Transparenz konfrontiert – begleitet von wachsendem wirtschaftlichem Druck. Hinzu kommt: In einer zunehmend automatisierten und global vernetzten Produktion erhöht sich der Druck, die Rückverfolgbarkeit nach internationalen Standards sicherzustellen. In diesem Umfeld kann die Kalibrierung von Messgeräten zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor werden.

Vor welchen Herausforderungen stehen Unternehmen nun – und welche neuen Ansätze können sie verfolgen, um Prozesse effizienter, sicherer und zukunftsfähiger zu gestalten?

Grundlagen der Kalibrierung

Zunächst ist es wichtig, den Begriff Kalibrierung von den verwandten Begriffen Justierung und Eichung zu unterscheiden.

•         Kalibrierung

Bei der Kalibrierung werden die Werte des Messgeräts mit den Werten eines Referenzgeräts oder eines Standards verglichen. Im Rahmen dieses Vergleichs werden jegliche Abweichungen dokumentiert. Diese Ergebnisse werden in einem Kalibrierzertifikat festgehalten, inklusive sämtlicher Informationen zu dem geprüften Gegenstand, den Referenzen, dem Prüfungsaufbau und -ablauf an sich sowie den Umgebungsbedingungen während der Prüfung. Ziel ist es, die Messergebnisse rückführbar auf nationale und internationale Kalibrierstandards - auch Normale genannt- zu machen und damit ihre Vergleichbarkeit und Nachvollziehbarkeit sicherzustellen.

•         Eichung

Davon abzugrenzen ist die Eichung, die ein rechtlich geregeltes Verfahren darstellt. Sie wird ausschließlich von staatlichen Behörden, den Eichämtern, durchgeführt. Bei einer Eichung wird überprüft, ob ein Messgerät die gesetzlichen Anforderungen gemäß dem Mess- und Eichgesetz erfüllt. Eichungen dienen in erster Linie dem Verbraucher- und Gesundheitsschutz: Es besteht unter anderem überall dort eine Eichpflicht, wo Messergebnisse direkt in Geldwerte umgerechnet werden, z.B. bei Waagen im Einzelhandel oder Stromzählern.

•         Justierung

Der dritte verwandte Begriff ist die Justierung. Hierbei handelt es sich um das direkte und exakte Nachstellen auf den bekannten Referenzwert. Je nach Gerät kann dies durch mechanische Elemente wie Potentiometer, per Menüführung oder über PC-Software erfolgen. Da eine Justierung die ursprünglichen Geräteeinstellungen verändert, wird anschließend stets eine erneute Kalibrierung durchgeführt: einmal vor und einmal nach der Justage. Nur mit diesem Vorgang lassen sich die Messergebnisse lückenlos dokumentieren und Messfehler bei Kalibrierung aufdecken.

Übergreifend geben Normen und Regelwerke den Rahmen für diese Prozesse vor. Besonders relevant sind die ISO/IEC 17025, die die Anforderungen an Prüf- und Kalibrierlabore definiert, und die ISO 9001, die internationale Norm für Qualitätsmanagementsysteme. Je nach Branche können noch zusätzliche Regelwerke hinzukommen, wie zum Beispiel die IPC- und IEC-Normen in der Elektronikbranche.

Zentrale Herausforderungen im Kalibrieralltag

In der Praxis ergeben sich bei der Kalibrierung eine Vielzahl an Herausforderungen, sowohl auf der technischen und wirtschaftlichen als auch speziell auf der organisatorischen Ebene.

Zum einen ist eine Kalibrierung mit einem hohen organisatorischen und logistischen Aufwand verbunden. Die Terminplanung und Verfügbarkeit der Prüfmittel sowie deren Versand und Rückführung an externe Dienstleister erfordern eine genaue und detaillierte Abstimmung. Gerade in hochautomatisierten Fertigungsumgebungen bedeutet jedes fehlende Messgerät ein Risiko für Verzögerungen oder Qualitätslücken.

Hinzu kommt die Verpflichtung zur Rückführbarkeit auf internationale Standards und die Einhaltung zunehmend strenger regulatorischer Anforderungen. Dies führt zu hierarchisch aufgebauten Kalibrierprozessen, in die neben diverse Verantwortungsbereiche auch unterschiedliche Technologien und Prüfvorschriften eingebunden sind. Die Koordination dieser vielschichtigen Strukturen ist komplex und fehleranfällig und kann zudem unmittelbare Auswirkungen auf die Produktsicherheit und Verlässlichkeit von Konformitätserklärungen haben.

Erschwerend kommt hinzu, dass Unternehmen häufig mit Engpässen bei externen Kalibrierdienstleistern sowie beim eigenen Fachpersonal konfrontiert sind. Lange Durchlaufzeiten, der Fachkräftemangel und die eingeschränkte Flexibilität von Kalibrierlaboren können zu Verzögerungen führen, die im Produktionsumfeld hohe Kosten verursachen.

Ein weiteres Problemfeld ist die digitale Integration und Dokumentation. Noch immer arbeiten viele Unternehmen mit papierbasierten oder isolierten Systemen, was eine lückenlose Nachverfolgbarkeit erschwert. Fehlende Schnittstellen zwischen Produktions- und Qualitätssicherungssystemen behindern effiziente Prozesse und stellen ein Risiko bei Audits dar. Zudem kann die unvollständige oder fehlerhafte Dokumentation die Rechtskonformität und Produktsicherheit beeinträchtigen.

Auch das Verhältnis der Kosten zum Nutzen bleibt für viele Unternehmen eine Dauerherausforderung. Der wachsende wirtschaftliche Druck führt oftmals dazu, dass Unternehmen zum Abwägen gezwungen sind, welche Kalibrierungen tatsächlich notwendig sind, und welche hinausgezögert werden können. Einsparungen an falscher Stelle können jedoch gravierende Folgen haben.

Von der Hürde zur Lösung: Innovationsfelder in der Kalibrierung

Kalibrierungen können jedoch nicht nur als eine notwendige Pflicht verstanden werden, sondern bieten sich auch als Chance an – vor allem im Bereich Digitalisierung und Automatisierung. Denn Prozesse lassen sich deutlich beschleunigen, wenn etwa zeitintensive Routineaufgaben wie die Messdatenerfassung automatisiert werden können.

Besonders ausschlaggebend kann die digitale Rückverfolgbarkeit sein. Wichtig an dieser Stelle ist die Unterscheidung zum Begriff Rückführbarkeit: Rückführbarkeit wird als technischer Nachweis der Messgenauigkeit verstanden, währenddessen Rückverfolgbarkeit die lückenlose Dokumentation von Produktions- und Lieferprozesse darstellt. Anstelle von verstreuten Dokumenten oder manuellen Einträgen ermöglichen digitale Systeme bei der digitalen Rückverfolgbarkeit eine durchgehende Verknüpfung von Messgeräten, Kalibrierdaten und Normen. Damit lassen sich auch die Anforderungen an die Rückführbarkeit nach internationalen Standards sicherstellen. Durch den Einsatz von digitalen Managementsystemen wird die gesamte Kalibrierhistorie automatisch dokumentiert und mit relevanten Normen wie ISO/IEC 17025 oder ISO 9001 verknüpft. Dies erleichtert nicht nur interne Qualitätsprüfungen, sondern auch externe Audits und schafft mehr Transparenz.

Ein weiterer zentraler Baustein können Cloud-Lösungen sein, die nicht nur für eine effiziente Verwaltung von Kalibrierdaten sorgen, sondern auch die Auditkonformität stärken. Durch zentrale Datenspeicherung und standardisierte Zugriffsrechte können Unternehmen jederzeit nachweisen, dass ihre Prüfmittel lückenlos überwacht werden. Darüber hinaus bieten Cloud-Systeme in der Regel eine höhere Datensicherheit als viele lokale Lösungen. Mit einer Verschlüsselung der Daten bei Übertragung und Speicherung sowie regelmäßigen Backups weisen sie meist ein mehrstufiges Sicherheitskonzept auf und gewährleisten gleichzeitig einen ortsunabhängigen Zugriff.

Neben effizienteren Abläufen rücken zunehmend auch Lösungen in den Vordergrund, die direkt am Messgerät ansetzen: Selbstkalibrierung und Remote-Kalibrierung erlauben es, bestimmte Kalibrierungen direkt im Betrieb und ohne zeitaufwändigen Versand an externe Dienstleister durchzuführen. Gerade in hochautomatisierten Produktionsumgebungen reduziert dies Stillstandzeiten und steigert die Flexibilität.

Ein strategischer Vorteil kann vor allem Predictive Maintenance sein. Denn auf Basis von Sensordaten, KI und statistischen Analysen kann vorausschauend geplant werden, wann eine Kalibrierung tatsächlich notwendig ist. Damit lassen sich Ausgaben reduzieren, etwa durch das Vermeiden von unnötigen Prüfungen.

Qualität, Sicherheit und Konformität

Die Kalibrierung von Messgeräten ist zwar eine technische Notwendigkeit, die mit viel organisatorischem Aufwand und regulatorischen Anforderungen verbunden ist – aber sie bietet gleichzeitig auch großes Potenzial. Denn mit Blick auf die Smart Factory und Industrie 4.0 wird deutlich, dass Kalibrierung eine Schlüsselrolle in intelligenten, vernetzten Systemen einnimmt. Digitale Rückverfolgbarkeit, Cloud-Systeme und vorausschauende Kalibrierstrategien mithilfe von Predictive Maintenance ermöglichen es, Prozesse nicht nur effizienter, sondern auch resilienter und transparenter zu gestalten. Kalibrierung wird so zum strategischen Qualitätsinstrument, das Unternehmen fit für die Zukunft macht.

Autor: Jan-Christoph Pakusa, Produktmanager Power Supplies/Test & Measurement bei Reichelt Elektronik


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