Bislang haben sich Multitouch-Anwendungen und Gestenbedienung - anders als in der Unterhaltungs- und Büroelektronik - noch nicht im industriellen und medizinischen Bereich durchgesetzt. Dabei liegen die Vorteile für Multitouch-Anwendungen gerade dort auf der Hand.
Auf dem Consumer-Markt und bei Office-Anwendungen haben sich intuitive Touch-Bedienkonzepte bereits durchgesetzt. Vom Smartphone oder Tablet-PC kennen die meisten die Mehrfingerbedienung: durch Gestensteuerung einfach Bilder zoomen, drehen oder wischen. Auch in industriellen und medizintechnischen Anwendungen finden einfache Touch-Anwendungen als »Ein-Finger-Klick-Bedienung« bereits einen Platz. Multitouch-Anwendungen und Gestenbedienung führen hier allerdings bisher noch ein stiefmütterliches Dasein. Doch gerade im medizinischen Bereich findet sich eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten für Multitouch.
Im Management von Patienten-, Befund- und Behandlungsdaten lässt sich durch Gestensteuerung bei der Zuordnung, beim Aufrufen und Speichern für die Benutzer deutlich Zeit einsparen. Die Arbeitsweise erfolgt intuitiv. Oder während der Visite kann der Arzt dem Patient den Befund beziehungsweise die Diagnose über die intuitive Steuerung des Touchscreens per Gesten erläutern.
Der Patient kennt das Zoomen und Drehen aus dem privaten Bereich und kann den Erklärungen und Handlungen des Arztes eher und visuell folgen. Auch das Arbeiten und Navigieren innerhalb eines Bildes vereinfacht sich deutlich. So setzt die Firma Hummel diese Technik erfolgreich zusammen mit eigenen Medizingeräten aus dem Bereich der Augenheilkunde ein (Bild 1).
Durch kontaktlose und optische Vermessung des Auges erhält der Arzt wichtig Information bei der Vorbereitung auf operative Eingriffe am Auge. Gerade bei den hochauflösenden Aufnahmen des Auges ist der Einsatz eines Multitouchscreens hilfreich. Insbesondere ist die Bedienung mittels Touchfunktion beim Erläutern den Patienten gegenüber und beim Navigieren eine große Erleichterung.
Hürden lassen sich überwinden
Die Vorteile für Multitouch-Anwendungen gerade im medizinischen Bereich liegen also auf der Hand. Doch warum haben sich in der Medizintechnik Touchsysteme noch nicht auf so breiter Front durchgesetzt? Das liegt unter anderem daran, dass solche Anwendungen besondere Ansprüche an ein Bedienkonzept stellen, weshalb herkömmliche Consumer-Produkte nicht geeignet sind. So ist im Bereich der Bilddarstellung zu bedenken, ob Fingerabdrücke auf dem Bild Fehler bei der Diagnose verursachen könnten. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn Röntgen- oder CT-Aufnahmen auf Touchpanels betrachtet werden.
Durch den Einsatz von speziellen Verfahren lässt sich eine Beeinträchtigung durch Fingerabdrücke vermeiden. Auch müssen die Touchsysteme je nach Anwendungsbereich Stoßfestigkeiten von IK08 nach DIN EN 62262 erreichen, ohne dabei die Bedienbarkeit einzuschränken. Weiterhin gibt es Einsatzgebiete, bei denen das Gesamtsystem und besonders die Bedienoberfläche gegen sämtliche gängigen Desinfektionsmittel resistent sein müssen. In diesen Fällen muss es auch so konstruiert sein, dass die Dichtigkeit bis zu IP69K (DIN 40050) garantiert ist, um Eindringen von Desinfektionsmitteln und Korrosion der Elektronik zu verhindern.
Fehlbedienung, verursacht durch störende Reflexionen und Parallaxenfehler, sind zu minimieren. Lässt sich das erreichen? Die Schlagfestigkeit der Klasse IK08 ist unter bestimmten Voraussetzungen schon bei geringen Glasstärken erreichbar, ohne dabei den Bedienkomfort einzuschränken. Mit dementsprechenden Kabelverschraubungen und Rundsteckverbindern, die ebenfalls bei Hummel zu haben sind, lassen sich Dichtheitsklassen von IP67/IP69K beziehungsweise NEMA 4X erreichen. Damit würde ein Touchpanel auch einer Behandlung mit dem Hochdruckreiniger standhalten.
Hervorzuheben ist auch, dass entsprechend dickes Glas oder Sicherheitsglas den Einsatz im Bereich der Notaufnahme oder in hektischeren anderen Bereichen ermöglicht. Selbst metallische Gegenstände, Instrumente, Skalpelle oder ähnliche scharfe Gegenstände können der Glasoberfläche eines kapazitiven Touchscreens wenig anhaben, anders als seinem resistiven Pendant.
Ein Touch-Bedienkonzept kommt ohne Tastatur und Maus beziehungsweise ohne Trackball aus - immer Staub- und Schmutzfänger. Insbesondere bei Systemen mit projiziert kapazitiven Touchsensoren (PCT, Projected Capacitive Touch; siehe Kasten »Resistiver vs. kapazitiver Touchsensor«) lassen sich Programme dank Gestensteuerung (Eingabe mit mehreren Fingern) oft schneller und einfacher bedienen als mit der Maus.
Resistiver vs. kapazitiver Touchsensor |
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Beim resistiven Touchsensor kommt ein leitfähig beschichtetes Glas als Träger zum Einsatz, das über durchsichtige Abstandshalter (Spacer) mit einer transparenten, leitfähig beschichteten Poyesterfolie beklebt ist. Die Folie wird mechanisch auf das Glas gedrückt, dadurch entsteht eine leitende Verbindung. Über eine Widerstandsmessung (Widerstandsbrücke) kann der Touch-Controller die Position ermitteln. Ein solcher resistiver Touch ist günstg, zahlreich verfügbar und störunempfindlich und hat keine Einschränkung bei der Bedienung (Hand, Handschuh, Stift, Werkzeug). Allerdings hat die Folie eine eingeschränkte Stabilität und Resistenz, und die Lichtdurchlässigkeit liegt nur bei ca. 80 %. Da das System nur bedingt langzeitstabil ist (Drift der Widerstände), muss eventuell von Zeit zu Zeit nachkalibriert werden. Resistiver Touch erlaubt keine Gestensteuerung, und bei stärkerer Belastung kann die ITO-Folie beschädigt werden, die Betätigungskraft erhöht sich bis zum Ausfall. Beim kapazitiven Touchsensor werden zwei leitfähig beschichtete und strukturierte Gläser oder Folien zusammenlaminiert. Es wird ein elektrisches Feld erzeugt, das bei Annäherung mit einem Finger gedämpft wird. Durch die Matrixanordnung der Sensorleitungen kann der Controller den genauen Berührpunkt interpolieren. Das System eignet sich für Multitouch- und Gestensteuerung, es unterliegt keiner Langzeitdrift (erneutes Kalibrieren entfällt). Da keine bewegten Teile vorhanden sind, arbeitet es praktisch verschleißfrei. Durch Frontgläser ist ein weitergehender Schutz möglich, die Lichtdurchlässigkeit erreicht 90 %. Es eignet sich für Mehrfingerbedienung und ist auch durch einen (nicht zu dicken) Handschuh bedienbar. Allerdings ist die Bedienung mit Gegenständen - abgesehen von einem speziellen Stift - nicht möglich. Die Auswerteelektronik ist aufwendig, und es ist ein definierter Einbau notwendig. Üblicherweise ist das System auch größer als sein resistives Pendant. |
Daher setzt Hummel bei seinen Touchsystemen auf diese Technologie (Bild 2). Das Unternehmen bietet PCT-Panels von 5 Zoll bis 22 Zoll als Einbauversion oder anschlussfertig konfektioniert im Gehäuse - optional mit integriertem Industrie-PC. Als Schnittstellen zur übrigen Anlage bieten die Panels alle gängigen Systeme wie beispielsweise USB oder Ethernet (LAN). Zudem lassen sich RFID- oder Barcode-Leser integrieren oder über einen USB-Port anschließen.
Ein weiterer Vorteil von PCT-Systemen ist, dass sich eine kantenfreie Glasoberfläche beziehungsweise kantenreduzierte Bedienfront einfach reinigen lässt. Eine derartige Konstruktion ermöglicht, dass keine Kanten, Ecken oder Ritzen entstehen, wo sich Schmutz anlagern kann. Glas ist außerdem chemisch sehr resistent und bietet daher eine ideale Fläche zum Reinigen oder sogar Desinfizieren.
Sie zeigt keine Verschleißspuren bei alltäglichem Desinfizieren oder Reinigen auch mit schärferen Mitteln. Covergläser kann Hummel mit Dekordruck liefern. Ein optischer Verbund aus Glasfront, kapazitiver Touchtechnik und Displays mit LED-Hinterleuchtung gewährleistet höchste Brillanz. Zudem reduziert ein solcher Verbund eine mögliche Fehlbedienung, verursacht durch störende Reflexionen und Parallaxenfehler.
Eigenes Montageverfahren entwickelt
Nicht nur die Qualität der optischen Darstellung lässt sich hierdurch deutlich verbessern, es wird durch den speziellen Aufbau der Komponenten eine wesentlich höhere mechanische Belastbarkeit erreicht. Für die Produktion der Touchpanels hat Hummel ein eigenes Montageverfahren entwickelt, um eine prozesssichere und optische einwandfreie Montage auch bei größeren Stückzahlen sicherzustellen.
Der Einsatz der projiziert kapazitive Technik ist dennoch nicht völlig unproblematisch: Der Touchsensor bildet ein Geflecht aus Sensorleitungen, die bildlich gesprochen eine Antenne darstellen. Bei der Integration eines PCT-Sensor mit einem Display und anderen elektronischen Komponenten in einem Gehäuse müssen verschiedene Punkte beachtet werden, um Störungen und damit eine mögliche Fehlfunktionen zu vermeiden.
Die entsprechende Einbeziehung des Touchscreens in das generelle Aufbaukonzept ist entscheidend, hierbei ist die Auswahl der Komponente wie beispielsweise der Stromversorgung, die Qualität der elektrischen und mechanischen Anbindung und die Berücksichtigung der klassischen Tugenden bzgl. Masse und EMV grundlegend, um ein multitouchfähiges Touchpanel in einem Medizingerät zu implementieren.
Über Multitouch-Anwendungen und Gestensteuerung lassen sich Anforderungen hinsichtlich Gebrauchstauglichkeit nach DIN EN 62366 (Usability Engineering) leichter umsetzten und die gesamte Steuerung des Gerätes für die Benutzer intuitiv gestalten. So können zum Beispiel Gesten, die sich in aktuellen Betriebssystemen im Bereich der Consumer-Elektronik oder Smartphones etabliert haben, in die Bedienung des Medizingerätes mit einbezogen werden.
Gerade durch die oben genannten Eigenschaften von PCT-Screens lassen sich weitere relevante normative Anforderungen, beispielsweise der IEC 60601-1 (Sicherheit medizinischer elektrischer Geräte) und EN ISO 10993 (biologische Beurteilung von Medizinprodukten), einfacher umsetzen. Individuelle Zulassungen, die im medizinischen Bereich notwendig sind, erfolgen nach Absprache.
HMI-Systeme bei Hummel |
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Als mittelständisches und international ausgerichtetes Unternehmen fertigt Hummel Touchlösungen, elektrotechnische Installationssysteme, Medizintechnik, MSR-Elektronik, Komplettsysteme und Heizungsfittings. Zu seinen Stärken zählt das Unternehmen u.a. zahlreiche Patente, eine hohe Fertigungstiefe, die Flexibilität für Sonderapplikationen und eine konsequente Qualitätsorientierung. Im Bereich der HMI-Systeme spielen alle Geschäftsbereiche zusammen, sodass alle Kompetenzen im Hause verfügbar sind, einschließlich der eigenen Touchpanel-Produktion. Das ermöglicht Flexibilität und Systemlösungen. Hummel-Touchpanel sind so konstruiert, dass ganz spezielle und unterschiedliche Anforderungen und Wünsche industrieller Anwender und darüber hinaus grundsätzliche Branchenanforderungen erfüllbar sind. Seit 2010 ist Hummel nach ISO 13485 zertifiziert und hat auf dieser Basis Geräte für den Bereich der Augenheilkunde erfolgreich entwickelt, hergestellt und in den Verkehr gebracht. Annähernd alle Bereiche des Unternehmens sind unterstützend an der Entwicklung und Produktion von Medizingeräten beteiligt. Sei es die Metall- oder Kunststoffverarbeitung bzw. Spritzerei, Elektronik oder Kabelkonfektion. Dies schafft während der Entwicklungsphase eine enorme Flexibilität. |