Im Gespräch mit Markt&Technik zeigt sich Remy El-Ouazzane, President der Microcontrollers and Digital ICs Group bei STMicroelectronics, überzeugt, dass KI in den nächsten Jahren in Millionen von Mikrocontrollern zum Einsatz kommen wird – und ST will hier eine gewichtige Rolle spielen.
Markt&Technik: Wieso ist KI aus Ihrer Sicht so enorm wichtig?
Remy El Ouazzane: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns in Richtung einer Welt der autonomen Dinge bewegen, das bedeutet mehr als das IoT. Derzeit reden wir von der »Cloud Connected Intelligent Edge«, bei der eine bestimmte Arbeitslast zwischen dem Edge, wo unsere Produkte glänzen, und der Infrastruktur des Rechenzentrums verteilt ist. Mit dem IoT werden Milliarden von Dingen intelligenter, vernetzter und mit Sicherheit auch sicherer. Wenn es um KI geht, würde ich behaupten, dass dies vielleicht die größte Chance für Mikrocontroller darstellt, denn jedes Jahr werden zwischen 5 und 10 Mrd. MCUs ausgeliefert. Und diese Mikrocontroller helfen, diese IoT-Geräte autonom zu machen.
Das ist ein riesiger Markt – nur zum Vergleich: Jedes Jahr werden 1 Mrd. Smartphones verkauft und 200 Mio. Laptops; das zeigt die Größenordnung, von der ich spreche. Wir sprechen hier von 10 Mrd. Mikrocontrollern, die in alle möglichen Anwendungen wandern, angefangen bei Vakuumpumpen über Solarinverter und Fahrzeuge bis hin zu Konsumelektronik.
KI im Edge heißt also die Devise.
Ja klar, denn wenn die KI im Edge lokal laufen kann, dann wird Energie gespart, weil man sich eben nicht mit der Cloud verbinden muss, um eine Inferenzierung durchzuführen. Das senkt natürlich auch die Kosten. Darüber hinaus sinken die Latenzzeiten, was insbesondere in Echtzeitanwendungen von Bedeutung ist. Dementsprechend ist KI im Edge besonders für Anwendungen wie Smart Building, Asset-Tracking, aber auch für viele industrielle Anwendungen wichtig. Beispielsweise können mithilfe von KI im Edge eine vorausschauende, möglicherweise sogar eine präskriptive Wartung durchgeführt werden, mit der es zum Beispiel möglich ist, Anomalien in einem Motor oder einem Lüfter zu erkennen, bevor ein mögliches Problem auftritt. Damit können Systementwickler ihre Produkte deutlich robuster machen.
Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Wir arbeiten mit vielen Unternehmen zusammen, eines davon ist das deutsche Unternehmen Pfeiffer Vacuum Technology. Die Vakuumpumpen dieses Unternehmens werden in vielen, auch sehr fortschrittlichen Industriezweigen eingesetzt, einschließlich Halbleiterindustrie, Fahrzeugindustrie, Pharma etc. Die Kunden von Pfeiffer sind daran interessiert, die Vakuumpumpen möglichst lang nutzen zu können und gleichzeitig die Kosten für die Wartung zu reduzieren. Heute sind die Verträge typischerweise so ausgelegt, dass die Wartungsintervalle festgelegt sind und dass man als Kunde dafür bezahlt. Und diese Wartungsintervalle basieren auf einer theoretischen Fehlerrate, in der Hoffnung, dass die Wartung vor einem Ausfall stattfindet – ein sehr ineffizienter Prozess, der die meiste Zeit zu unnötigen Wartungen führt. Es kann aber auch die Produktlebensdauer verkürzen, genau dann, wenn vor der nächsten Wartung eine schwerwiegende Fehlfunktion auftritt.
Mit einer vorausschauenden Wartung kann Pfeiffer die Wartung genau zum richtigen Zeitpunkt durchführen. Das Einzige, was Pfeiffer dafür tun muss: Das Unternehmen muss eine riesige Menge an Datensätzen auswerten, denn es wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Daten erfasst, sei es Temperatur oder Vibration oder Feuchtigkeit etc., alles, was die Leistung der Vakuumpumpe beeinflusst. Diese Daten müssen wahrscheinlichkeitstheoretisch analysiert und auf Basis dessen Entscheidungen getroffen werden. Das ist nicht trivial, aber wenn es gelingt, kann Pfeiffer als Beispiel sehr genau die optimalen Wartungsintervalle bestimmen. Das heißt, die Vakuumpumpe wird nur dann gewartet, wenn sie wirklich gewartet werden muss. Das eröffnet außerdem die Möglichkeit, bei der Wartung präskriptiv, also was künftig geschehen soll, zu werden, denn je mehr Daten man hat, desto mehr können auch neue Einstellungen für die Maschinen entwickelt werden, die die Lebensdauer tatsächlich verlängern.
Und wie gesagt, die Vakuumpumpen von Pfeiffer sind nur ein Beispiel; KI hilft auch in ganz anderen Fällen, egal ob es um die Klassifizierung von Problemen, Anomalie-Erkennung oder vorausschauende Wartung geht; ich bin überzeugt: KI wird zur Norm.
STMicroelectronics hat Tausende von Kunden, nicht jeder ist ein KI-Experte.
Ja, richtig. Unser Marktanteil bei den MCUs liegt bei etwa 25 Prozent, also sprechen wir von hunderttausenden Kunden – ein Teil davon sind KI-Experten, ein Teil nicht. Deshalb ist es wichtig, dieses Problem auf verschiedene Art und Weisen zu adressieren. Grundsätzlich denke ich, dass die Software das eigentliche Problem darstellt. Um wieder auf das Beispiel mit der Vakuumpumpe zurückzukommen: Es stellt sich die Frage, wie wir den Software-Entwickler, der seine Vakuumpumpe extrem gut kennt, in die Lage versetzen können, sein Wissen über die Pumpe anzuwenden und basierend darauf ein KI/ML-Modell zu entwickeln, das schließlich auf der Vakuumpumpe eingesetzt wird, das ein selbstüberwachtes Lernen durchführt und sich selbst optimiert, sodass schlussendlich Entscheidungen gefällt werden können, die eine vorausschauende Wartung ermöglichen.
Noch einmal: Das ist ein Softwareproblem, das wir mit zwei verschiedenen Ansätzen lösen, einer für KI-Experten und einer für Embedded-Entwickler, die sich nicht mit KI auskennen. Für beide Kategorien von Entwicklern haben wir jeweils ein Tool entwickelt. NanoEdgeAIStudio ist PC-basiertes Push-Button-Entwicklungsstudio, sozusagen ein Low-Code-Plattform-Tool für Entwickler, die nur sehr begrenzte Kenntnisse über KI haben. Mit diesem Tool sind keine fortgeschrittenen Data-Science-Kenntnisse erforderlich, jeder Software-Entwickler kann das Tool verwenden, um eine optimierte ML-Bibliothek zu erstellen, die Entwickler müssen nur ihr eigenes Industriewissen einbringen, sprich: welche Daten relevant sind. Das Tool hilft dem Entwickler, seine ML-Bibliothek zu erzeugen, die dann optimal auf einem Mikrocontroller eingesetzt werden kann. Und das ist nicht trivial, denn MCUs sind typischerweise beschränkt, was Leistung und Speicherplatz anbelangt, das heißt, hier ist viel Optimierung notwendig.
Die zweite Klasse der Entwickler, für die wir das Software-Problem lösen wollen, sind die KI-Experten. Sie wollen typischerweise komplexere KI-Tools und die bekannten Frameworks wie TensorFlow oder PyTorch nutzen. Für diese Kategorie der Entwickler stellen wir mit STM32Cube AI ein Tool zur Verfügung, mit dem sie ihre vortrainierten neuronalen Netze in einen optimierten Code für die STM32-MCUs umwandeln können. Und diese Gruppe von Entwicklern wächst rasant. Innerhalb der letzten rund 15 Monate ist die Adaptionsrate um 400 Prozent gewachsen.
Und mit diesen zwei Tools kann jeder Entwickler, ob KI-Experte oder nicht, KI auf einem unserer 1500 Mikrocontroller implementieren.
Ein enormes Wachstum!
Das ist erst der Anfang, ich bin überzeugt, dass in fünf Jahren jedes Jahr 500 Millionen MCUs mit KI oder maschinellem Lernen arbeiten. 500 Millionen sind eine große Zahl innerhalb von fünf Jahren, das ist die Hälfte der jährlichen Smartphone-Produktion. Und mit 500 Millionen erreiche ich nicht einmal annähernd 10 Prozent des Marktes. Das heißt, auch danach sind noch 90 Prozent des Marktes zu erobern.
Wie bereits gesagt, das Problem ist zunächst ein Softwareproblem. Habe ich das gelöst, folgt eine andere typische Marktentwicklung: Die Entwickler wollen mehr Leistung. Und damit ist für ST klar: Wir werden immer mehr Controller mit KI-Beschleunigern ausstatten, das heißt mit Funktionsblöcken, die für mathematische Funktionen optimiert sind. Damit können Entwickler CNNs, aber auch andere Arten von neuronalen Netzen nutzen und gleichzeitig trotz höherer Rechenleistung die verbrauchte Energiemenge gleichhalten oder senken.
Ich denke, dass wir am Anfang einer sehr interessanten Reise stehen. Vielleicht sogar die größte KI-Reise, die die Welt je erlebt hat. Es ist eine Reise, die es den Milliarden von Dingen da draußen ermöglicht, immer autonomer zu werden, um das Leben zu bereichern und uns bei vielen Aufgaben zu unterstützen, oder um die Produktivität zu maximieren. Und an dieser Reise wollen wir mehr als nur einen kleinen Anteil haben.