»Unternehmen sollten nach der Pandemie einen neuen Gesellschaftsvertrag unterstützen«, sagt Jean-Marc Ollagnier, CEO Accenture Europa.
Ein neuer »Gesellschaftsvertrag«, der auf einer selbstbestimmten Vision des Gemeinwohls basiert: Das könnte ein überraschendes Ergebnis der Covid-19-Pandemie sein.
Die Verständigung zwischen Bürgern, die »bewussten Konsum« betreiben und einem Staat, der sich einem starken öffentlichen Gesundheitssystem verschrieben hat, kann bestehende Trends in der Industrie beschleunigen – und damit einen positiven Zyklus des Wandels fördern. Das ist kein Wunschdenken: Es gibt Anhaltspunkte für einen Wandel der Verbraucherperspektiven und des Verbraucherverhaltens – und die Unternehmen müssen sich diesem Wandel anpassen.
Thomas Hobbes prägte 1651 in seinem Werk Leviathan den Begriff »Gesellschaftsvertrag«. Während dieser im Original den Staat beschreibt, erinnert er doch gleichzeitig an die gegenwärtige Dimension von Covid-19. Der Vertrag – von Jean-Jacques Rousseau mit einem revolutionären Appell versehen – charakterisiert das Gleichgewicht zwischen den gegenseitigen Rechten und Gegenleistungen von Staat und Bürgern.
Krisen erzeugen Veränderungen. Das Corona-Virus hat das Potenzial, unseren aktuellen Gesellschaftsvertrag auf der Grundlage eines neuen Bewusstseins dafür, was für die Gesellschaft als Ganzes am besten ist, neu zu gestalten und so die stärksten wirtschaftlichen Trends der letzten Jahre zu verstärken. Es ist eine bittere Erkenntnis, doch der Verzicht, der nötig ist um die Corona-Pandemie zu besiegen, könnte die Bürger dazu befähigen, mehr Verantwortung von den Unternehmen einzufordern, indem sie unter den wachsamen Augen eines neuen, selbstbewussten Staates bewusster konsumieren.
Das liegt daran, dass die Bürger aufgefordert wurden, eine vergessene Tugend – die bürgerliche Verantwortung – durch große kollektive Anstrengung auszuüben: durch Selbstisolierung, Abriegelung und auch durch den Verlust geliebter Menschen. Wenn sich die Lage beruhigt hat, werden diese Bürger im Gegenzug die gleiche Verantwortung für das Gemeinwohl von den Unternehmen erwarten. Und Unternehmen reagieren bereits darauf – man denke etwa an Microsofts Schritt, sein Kollaborationstool Teams kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Autorität und Gegenseitigkeit
Covid-19 ist eine Krise wie keine andere. Studien weisen darauf hin, dass sie Perspektiven verändert – eine »neue menschliche Erfahrung«, die Unternehmen anerkennen müssen.
Experten glauben, dass die Beziehung zwischen Regierung und Gesellschaft die Entscheidungen der Verbraucher prägen. Und die Pandemie belebt das Mandat der durch Populismus und Globalisierung belasteten Zentralstaaten wieder. Ein Ergebnis könnte die Unterstützung einer starken, klugen Exekutivgewalt unter willigen Bürgern sein, für die effektive Ergebnisse entscheidend sind.
Aber wie uns Hobbes und Rousseau lehrten und wie die Fakten zeigen, wird die Neuerfindung des Leviathans den Gesellschaftsvertrag durcheinander bringen – und die Verbraucher erwarten Gegenleistungen. Dies wird sich auf den Staat, auf Marken und Themen auswirken, die sich zwischen Politik und Unternehmen bewegen – eine eindeutige Folge davon wird das Feld der Nachhaltigkeit sein.
Dafür gibt es einen guten Grund. Wenn die Verbraucher aus einem Lockdown heraustreten, der ihre Gewohnheiten verändert hat, könnten viele zu dem Schluss kommen, dass sie mit weniger auskommen können, etwa ohne Langstreckenflüge oder übermäßigen Konsum. Es gibt Anzeichen dafür, dass dies geschieht. Die Ergebnisse einer globalen Accenture-Umfrage deuten darauf hin, dass sich der Trend zur Umstellung des Verbraucherverhaltens auf Sektoren vom Einzelhandel bis hin zum Transportwesen auswirken wird. Die Verbraucher kaufen anders ein, um Abfälle zu minimieren, Geld zu sparen, nachhaltigere Entscheidungen zu treffen und lokal zu konsumieren. Und die meisten sagen, dass sie dies auch nach dem Ende der Pandemie wahrscheinlich beibehalten werden.
Eine gesunde Revolution
Die Auswirkungen des weitreichenden »Vermächtniseffekts« sind tiefgreifend: Wir könnten den bisher größten Test unternehmerischer und institutioneller Werten und von Werten allgemein erleben.
Verhaltensänderungen werfen entscheidende Fragen darüber auf, was – und wie – Marken produzieren und verkaufen. Wird der Wunsch der Verbraucher nach energiesparenden Alternativen selbst in einem möglicherweise nachfrageschwachen Umfeld die Initiativen zur Energiewende beschleunigen? Wird die Nachfrage nach einer gerechteren Produktion den Luxus und damit ganze Industrien neu definieren?
Einige Sektoren können mit einem Rückschlag rechnen, andere wiederum werden sich beschleunigen. Eine im Aufbau befindliche »Gesundheitswirtschaft«, in der Erfahrungen, Produkte und Dienstleistungen durch die Brille des Wohlergehens beurteilt werden, könnte die Grundlage des neuen Gesellschaftsvertrags sein.
Eine Revolution der Gesundheitsversorgung ist im Gange. Die Staaten beschäftigen sich mit dem öffentlichen Gesundheitssystem, und die Ausgaben hierfür werden wahrscheinlich noch lange nach der Pandemie weiter steigen. Accenture-Daten zeigen, dass die meisten Menschen um ihre Gesundheit fürchten. Körperpflege- und Reinigungsprodukte stehen bei den Kaufabsichten an erster Stelle. Die virtuelle Selbstfürsorge boomt.
Die Industrie hat bereits Notiz davon genommen – man denke nur an Googles Übernahme von Fitbit in Höhe von 2,1 Milliarden Dollar, Danones Umstellung auf pflanzliche Lebensmittel oder die Fusionen zwischen Autoherstellern, Zulieferern und medizinischen Unternehmen: Faurecia hat einen intelligenten Fahrersitz entwickelt, und Jaguar Land Rover vernichtet Keime in Autos. Covid-19 gibt diesen Trends Impulse, was auch durch das kostenlose Angebot der Wellbeing-Apps Headspace und Unmind belegt wird.
Hobbes würde dem zustimmen. Sein Gesellschaftsvertrag, der in der Zeit der Erholung Englands vom Bürgerkrieg entworfen wurde, wird auch als eine Säule der modernen europäischen Wiederversöhnung angesehen. Eine Säule, die sich am Versprechen eines besseren Lebens für alle orientiert.