Der Umfang der »Treuepflicht« zur Ersatzteilversorgung ist im Detail nicht endgültig geklärt. Will man sich nicht auf wenig zielführende Leerformeln wie den »voraussichtlichen Kundenbedarf« oder gar die »Umstände des Einzelfalls« zurückziehen, erscheint es am überzeugendsten, auf ein im deutschen Recht weit verbreitetes Zurechnungskriterium abzustellen: das Verschulden. Demnach hat der jeweilige Lieferant solche Ersatzteile für seine Anlagen, Systeme bzw. Systemkomponenten vorzuhalten, deren vorzeitigen Ausfall er verschuldet hat. Ein Verschuldensvorwurf ist gerechtfertigt, wenn der Lieferant das ausgefallene Teil entweder willentlich als Verschleißteil definiert oder nicht sorgfältig genug konstruiert, getestet oder produziert hat, um den vorzeitigen Ausfall mit hinreichender Sicherheit zu verhindern. Analog zur Rechtslage im Produkthaftungsrecht obliegt dem jeweiligen Lieferanten die Beweislast dafür, dass er die erforderliche Sorgfalt hat walten lassen. Kann er diesen Beweis nicht durch lückenlose Dokumentation erbringen, ist sein Verschulden und somit seine Lieferpflicht für das jeweilige Ersatzteil im Streitfall zu unterstellen.
Wie lange besteht die Lieferpflicht?
Auch im Hinblick auf die gebotene Dauer der Ersatzteilversorgungspflicht gibt es rechtssystematisch einen Ansatzpunkt, der an das eigenverantwortliche Verhalten des Lieferanten anknüpft und eine individuelle und klare Bestimmung der Lieferdauer ermöglicht: die sogenannten technische Lebens- und Nutzungsdauer des jeweiligen Liefergegenstands, die der Lieferant seinen Anlagen, Systemen bzw. Systemkomponenten im Konstruktionsprozess bewusst zugewiesen hat. Demnach besteht die Ersatzteilversorgungspflicht im Hinblick auf den konkreten Liefergegenstand grundsätzlich so lange, wie dieser weder seine technische Nutzungsdauer (zugewiesene Laufleistung) noch seine technische Lebensdauer (zugewiesene Gebrauchsdauer) erreicht hat.
Ersatzteilpreise und Pflicht zum proaktiven Obsoleszenzmanagement
Da es sich bei der Ersatzteilversorgungspflicht um eine „Treuepflicht“ (und nicht etwa um eine Schadensersatzpflicht) handelt, ist dem Lieferanten grundsätzlich zuzugestehen, für gelieferte Ersatzteile wirtschaftliche Preise zu verlangen (d.h. Kosten plus angemessene, nicht missbräuchlich überhöhte Gewinnspanne). Dies gilt jedoch nicht, soweit hohe Kosten des Lieferanten darauf beruhen, dass er es verpasst hat ein wirksames proaktives Obsoleszenzma-nagement durchzuführen. Denn die „Treuepflicht“ des Lieferanten gegenüber seinen Abneh-mern gebietet es auch, deren wirtschaftliches Interesse daran zu schützen, von vermeidbaren Mehrkosten der Ersatzteilversorgung verschont zu bleiben.
Der genaue Inhalt der Lieferantenpflicht zum Obsoleszenzmanagement lässt sich nicht allgemein umschreiben, sondern ist nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu bestimmen. In jedem Fall dürfte der Lieferant jedoch dazu verpflichtet sein, seine jeweiligen Zuliefermärkte im Hinblick auf sich abzeichnende Obsoleszenzen zu beobachten und wirksame Strategien zum Umgang hiermit zu entwickeln. Hierzu können beispielsweise die ausreichende Bevorratung relevanter Vorprodukte, der Abschluss langfristiger Lieferverträge mit Vorlieferanten und die systematische Überarbeitung obsoleszenzgefährdeter Teile gehören. Die Pflicht des Lieferanten zum proaktiven Obsoleszenzmanagement endet jedenfalls an der (wiederum im konkreten Einzelfall zu bestimmenden) Unzumutbarkeitsgrenze.
Verletzt der Lieferant seine Pflicht zum proaktiven Obsoleszenzmanagement, und steigen in der Folge die Kosten der Ersatzteilproduktion, so darf er die Mehrkosten nicht seinen Abnehmern (über die Ersatzteilpreise) in Rechnung stellen. Kann der Lieferant benötigte Ersatzteile aufgrund seiner Pflichtverletzung nur verzögert oder gar nicht liefern, hat er seinen Abnehmern den daraus resultierenden Schaden zu ersetzen.
Die Pflicht zum wirksamen proaktiven Obsoleszenzmanagement ist jedoch keine Einbahnstraße. Vielmehr folgen aus dem jeweiligen Liefervertrag »Treuepflichten« für beide Vertragspartner und somit auch für den jeweiligen Abnehmer. Die »Treuepflicht« des Abnehmers beinhaltet unter anderem, den Lieferanten im Rahmen des Zumutbaren dabei zu unterstützen, eine gesicherte Ersatzteilversorgung zu wirtschaftlichen Preisen zu gewährleisten. Hierzu gehört auch, dass der Abnehmer selbst ein für seine Wirtschaftsstufe angemessenes proaktives Obsoleszenzmanagement betreibt und beispielsweise von der Möglichkeit Gebrauch macht, sich im Rahmen eines vom Anbieter angekündigten »Last-Time-Buys« in angemessenem Umfang mit obsoleten Ersatzteilen einzudecken. Verletzt der jeweilige Abnehmer die ihm obliegende »Treuepflicht«, so fallen ihm allein die Kosten sich daraus ergebender Nachteile zur Last. Je nach Fallgestaltung kann die Ersatzteilversorgung für den Lieferanten auch unzumutbar werden und aus diesem Grund ganz entfallen.
Somit führen die jeweiligen »Treuepflichten« im Ergebnis dazu, dass die gesamte Lieferkette nach besten Kräften kooperieren muss, um die wirtschaftliche Versorgung des am Ende der Lieferkette stehenden Anlagennutzers mit Ersatzteilen zu gewährleisten. Dazu gehört neben einer offene Kommunikations- und Informationspolitik auch die Pflicht, ein angemessenes proaktives Obsoleszenzmanagement nach neuestem Erkenntnisstand zu implementieren. Bei sich abzeichnenden Obsoleszenzproblemen ist unverzüglich das Gespräch mit allen betroffenen Unternehmen der Lieferkette zu suchen. Diese müssen gemeinsam alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um eine für alle Beteiligten angemessene Lösung zu finden und umzusetzen. Verletzt ein Unternehmen der Lieferkette seine »Treuepflichten«, hat es regelmäßig sämtliche hieraus konkret resultierenden Schäden verzögerter oder unwirtschaftlicher Ersatzteilversorgung zu tragen. Hiermit sind erhebliche Risiken verbunden, die schnell existenzbedrohendes Ausmaß erreichen können. Dies sollte Anreiz genug sein, die Obsoleszenzproblematik proaktiv, kooperativ und konstruktiv anzugehen.