Macht IIoT Ethernet den Rang streitig?

Industrial Ethernet gestern, heute und morgen

7. August 2023, 12:00 Uhr | Andreas Knoll
Industrielle Netzwerktechniken im Wandel der Zeit
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Seit seinen Anfängen hat sich Industrial Ethernet als Rückgrat der industriellen Kommunikation etabliert. Doch welche Rolle wird es künftig angesichts der neuen IIoT-Kommunikationsstandards spielen? Im Interview beleuchten zwei Experten seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

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Markt&Technik: Wie entwickelte sich Ethernet von den Anfängen im Jahr 1973 bis zum Aufkommen von Industrial Ethernet?

Thilo Döring, Geschäftsführer der deutschen Niederlassung von HMS Networks: Ausgehend von nur zwei Kommunikationssystemen – Ethernet, Modbus – Mitte der 1970er-Jahre hat sich bis heute eine Vielzahl marktrelevanter Kommunikationssysteme entwickelt. Alle heutigen Industrial-Ethernet-Standards beruhen auf der Ethernet-Technologie, die sich seit Mitte der 1980er-Jahre im Büroumfeld etablierte und heute aus keinem Büro und Privathaushalt mehr wegzudenken ist. Das TCP/IP-basierte Büro-Ethernet (IT-Ebene) hat sich nicht zuletzt wegen seiner Flexibilität, Zuverlässigkeit und einfachen Verdrahtung durchgesetzt.

Die durch Ethernet – und den ungefähr zeitgleich entstandenen Modbus – erst möglich gewordene digitale Datenübertragung hatte viele Vorteile gegenüber der diskreten Festverdrahtung, die in den 1980er-Jahren in der Fabrikautomatisierung Standard war. Schnell wurde jedoch klar, dass es in der Automatisierung spezielle Anforderungen bezüglich Zeitverhalten, Robustheit und Zuverlässigkeit bei der Datenübertragung gab, die sich ganz wesentlich von den Anforderungen der aus der Informationstechnik stammenden Netzwerke unterschieden. Zunächst entstanden die klassischen Feldbusse für die Fabrikautomatisierung. Industrial Ethernet kam erst später als Ergänzung zu den Feldbussen hinzu. Rückblickend lässt sich sagen, dass Industrial Ethernet ungefähr seit dem Jahr 2000 mit den klassischen Feldbussen konkurriert. Ähnlich wie bei den Feldbussen gibt es auch bei Industrial Ethernet bis heute keinen einheitlichen Standard, sondern eine Vielzahl verschiedener Protokolle, von denen EtherNet/IP, Profinet, Modbus TCP, EtherCAT, Powerlink, Sercos III und CC-Link IE (Field) die bekanntesten mit den weltweit größten Marktanteilen sind.

Xaver Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Profibus-Nutzerorganisation (PNO): Der Weg von den Anfängen des Ethernet als Campus-Netzwerk bis zum heutigen Industrial Ethernet fand etappenweise statt. Ging es in den Anfängen erst einmal darum, einzelne Computer miteinander zu verbinden, spielten in der weiteren Entwicklung vor allem das Thema Sicherheit und die Strukturierung der Netze sowie die Geschwindigkeit eine große Rolle. Heute ist eine Welt ohne Industrial Ethernet undenkbar. Gründe dafür, dass sich Industrial Ethernet im Laufe der Jahre gegenüber anderen aufkommenden LAN-Technologien durchgesetzt hat, waren sowohl die internationale Standardisierung mit vielen engagierten Unternehmen als auch die kontinuierliche Weiterentwicklung der Technik.

Döring Thilo
Thilo Döring, HMS Networks: »Der Traum aller Anwender, einen einheitlichen industriellen Kommunikationsstandard zu haben, wird wohl weiterhin ein Traum bleiben.«
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Als Industrial Ethernet in den späten 1990er-Jahren aufkam, hatten sich die klassischen Feldbussysteme bereits etabliert. Wie kam es zur Herausbildung von Industrial Ethernet, und was waren die Gründe dafür, in der industriellen Produktion auf Ethernet zu setzen?

Döring: Zentrale Aufgabe von Feldbussen und Industrial-Ethernet-Netzwerken ist die Übertragung von Prozess-, Parameter-, Diagnose- und Safety-Daten. Mit der zunehmenden Digitalisierung und Anwendung industrieller IT-Systeme konnten die Industrial-Ethernet-Systeme gegenüber den Feldbussen mit einem wesentlichen Vorteil punkten: Während Feldbusse aus Performance-Gründen nur ein einziges Protokoll über ein Kabel übertragen können, ist es mit Industrial Ethernet und dem Einsatz der aus der IT-Welt kommenden TCP/IP-Protokolle möglich, mehrere Protokolle gleichzeitig über ein und dasselbe Kabel zu übertragen. Mit 100-Mbit/s-Ethernet steht genügend Performance zur Verfügung, um Komfortfunktionen wie geräteinterne Websites, Firmware-Updates und große Mengen qualitätsrelevanter Daten ohne Verletzung der Echtzeitanforderungen über dasselbe Kabel zu übertragen. Der zunehmende Datenhunger industrieller IT-Systeme hat wesentlich zur Etablierung von Industrial Ethernet beigetragen, und bei neuen Installationen setzen Automatisierer heute meist auf Industrial Ethernet. Auch die Vernetzung von Maschinen mit SCADA-Systemen ist ein typischer Anwendungsfall für Industrial Ethernet.

Schmidt: Profibus war damals – und ist es bis heute – als klassischer Feldbus etabliert. Er erfüllt alle industriellen Anforderungen an Robustheit und Zuverlässigkeit. Allerdings wurde damals mehr und mehr die Anbindung von Anlagen, überlagerten Systemen und höherwertigen Maschinen verlangt. Hier war ein höherer Datendurchsatz erforderlich. Ethernet, wie es im Büroumfeld eingesetzt wurde, konnte jedoch die Anforderungen einer rauen Industrieumgebung wie Robustheit, Verfügbarkeit und einfache Installation nicht erfüllen. Als vor etwa 20 Jahren Ethernet auch als Feldbuskommunikation ermöglicht wurde, nutzte die PI-Community den wesentlichen Architekturvorteil und etablierte Profinet. Damit war die Parallelität von Echtzeit-I/O-Daten und etablierten TCP/IP-Protokollen möglich. Die Offenheit für weitere Protokolle ist einer der entscheidenden Vorteile von Profinet. Heute können die Feldgeräte I/O-Daten in der nötigen Echtzeit mit einer Steuerung austauschen und das jeweils passende Protokoll ohne aufwendige Zusatzmethoden mit PCs oder anderen Systemen abfahren. Dieses Grundprinzip ist und wird mit Industrie 4.0 und der Digitalisierung der Industrie noch wichtiger, weil so ein freier und unabhängiger Zugriff möglich ist.

Wo sehen Sie die Position von Industrial Ethernet gegenüber anderen drahtgebundenen und drahtlosen Kommunikationstechniken?

Döring: Feldbusse sind im Hinblick auf Performance und übertragbare Datenmenge limitiert. Auch neue Anforderungen wie die Datenübertragung per Funk oder Anbindung der Fertigung an IT/Cloud-Systeme sind mit ihnen nicht umsetzbar. Ganz anders Industrial Ethernet: Weil es auf dem klassischen Ethernet mit TCP/IP-Protokoll aufsetzt, bietet es dieselben Vorteile und ist die Basistechnologie, mit der sich die unterschiedlichsten Kommunikationsanforderungen der Industrie erfüllen lassen: Es unterstützt verschiedene Übertragungsmedien, sodass es die Datenübertragung nicht nur über Kabel, sondern auch per Funk ermöglicht. Durch die nahe Verwandtschaft zum Standard-Ethernet ist mit Industrial Ethernet eine nahtlose Kommunikation von der Fertigung bis in die industriellen IT-Systeme und Cloud-Anwendungen möglich. Und es ist eine zukunftssichere Technologie, mit der neue Anforderungen an die industrielle Infrastruktur wie Gbit/s-Kommunikation, deterministische Kommunikation via TSN und auch Datenkommunikation über 5G realisierbar sind.

In neuen Installationen wird Industrial Ethernet zunehmend zum Standard und ersetzt Feldbusse mehr und mehr. Für Industrial Ethernet sprechen auch die Flexibilität, mit der sich neue Geräte leichter integrieren lassen, die einfachen Infrastrukturen über ein einheitliches Medium, mit denen auch Stern- und Linientopologien möglich sind, und nicht zuletzt die große Zuverlässigkeit, die für eine robuste Datenkommunikation unabdingbar ist.


  1. Industrial Ethernet gestern, heute und morgen
  2. Industrial Ethernet wird weiter wachsen

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