Und inwieweit ist diese Plattform „offen“? – Dies führt auch wieder ein Stück weit auf meine Eingangsfrage zurück …
Offen ist die Plattform wiederum in technischer und organisatorischer Hinsicht. Technisch bedeutet Offenheit, dass einzelne Funktionen – etwa der Manufacturing Service Bus – mit unterschiedlichen Technologien bestückt werden können. Sie sind austauschbar, und das sorgt für Zukunftssicherheit und Innovationsfähigkeit. Grundlage für diese Offenheit sind die Referenz-Architektur und der Einsatz offener Schnittstellen und Technologien, etwa quelloffene Betriebssysteme. Diese offenen Standard-Technologien haben eine große Entwicklergemeinde, sodass ein kontinuierlicher Strom von Innovationen sichergestellt ist. Offenheit ist aber auch ein organisatorisches Prinzip. Virtual Fort Knox soll keine geschlossene Plattform sein, sondern ein offenes, lebendiges Ökosystem. Es basiert auf dem Gedanken einer gemeinsamen digitalen Plattform, die Leistungen für die teilnehmenden Unternehmen bereitstellt, die diese selber so nicht erbringen könnten. Die Unternehmen, die am Virtual Fort Knox teilnehmen, kommen aus den unterschiedlichsten Geschäftsfeldern. So werden Betreiber und Anbieter der Plattform genauso Teil der Plattform-Community sein wie mittelständische Unternehmen des Anlagen- und Maschinenbaus, Softwarepartner, Vertriebspartner und Wiederverkäufer. Diese benötigen den offenen Zugang zur Gemeinschaft.
Welche Rolle spielen Vertrauen und Akzeptanz beim Aufbau einer solchen Plattform?
Akzeptanz sehen wir als gegeben an, wenn ein Anwender motiviert ist, sich der Community anzuschließen. Das ist genau dann der Fall, wenn er Vertrauen in die Organisation hat, er sich einen Nutzen aus den Plattformfunktionen verspricht und wirtschaftlichen Erfolg erwartet. Das Vertrauensmodell des Virtual Fort Knox geht davon aus, dass sich diese Akzeptanz nur indirekt über die drei Komponenten „Geschäftsmodell“, „Nutzen“ sowie „Sicherheit und Vertrauen“ erreichen lässt. Dazu sind Transparenz, eine offene Kommunikation und die Möglichkeit zur Partizipation notwendig.
Inwieweit nimmt diese Plattform auch KMUs mit ins Boot – sprich, können es sich KMUs überhaupt leisten, an der Plattform zu partizipieren?
Das ist ja gerade die Ursprungs-Idee von Virtual Fort Knox: Die Plattform soll KMUs die Ressourcen, aber auch die Vernetzungsmöglichkeiten an die Hand geben, die sie brauchen, um Industrie 4.0 umzusetzen. Wir glauben, dass „die Kleinen“ auf diesem Wege sogar schneller sein können als „die Großen“, die zwar mehr Ressourcen haben, aber auch schwerfälliger sind. Kleinere Firmen sind oft wendiger, und wenn sie sich zusammenschließen, können sie auch eine große Macht entfalten und den Goliath schlagen.
Industrie 4.0 kommt nur zum „Fliegen“, wenn die Aspekte der horizontalen Integration funktioniert. Was bedeutet das konkret für den Shopfloor?
Horizontale Integration funktioniert nur auf der Grundlage von vertikaler Integration. Und das ist bekanntlich, mehr als Sensordaten aus den Maschinen zu analysieren. Die Ergebnisse dieser Analysen müssen in deterministische Steuerungsimpulse übersetzt werden – und dieser Prozess kann innerhalb der Maschine selbst oder über den Umweg durch eine IoT- oder Cloud-Plattform ablaufen. Funktionieren wird die horizontale Integration, also die Vernetzung über Firmengrenzen hinweg, nur, falls die beteiligten Firmen ihre Werte, ihr IP und ihre Daten, aber auch die Betriebssicherheit geschützt sehen. Für den Shopfloor bedeutet dies, dass Sicherheitstechnologien auch auf der Ebene der Operational Technology, also innerhalb der Feldbussysteme, umgesetzt werden müssen. Neben der naheliegenden Verschlüsselung gehören dazu auch das schon erwähnte „Security Information and Event Management“, das nun auch diese Ebene überwachen muss.
Dazu wäre es aber auch erforderlich, dass die Grenzen zwischen OT und IT fallen – wie kann das gelingen?
Ja, die Grenzen fallen, und am Beispiel der Sicherheit habe ich gerade die Notwendigkeit und Umsetzung beschrieben. Hinsichtlich der Steuerungsfunktion der heutigen OT werden wir nicht mehr zwischen IT und OT unterscheiden, wenn IT echtzeitfähig im Sinne der Deterministik in Abhängigkeit von den Taktfrequenzen der heutigen Systembusse wird. Dass das technisch mit neuen Architekturen möglich ist, zeigen vielversprechende Machbarkeitsstudien. Aber bis zur Serienreife haben wir noch eine Wegstrecke vor uns.
Welche Standards brauchen wir, damit Industrie 4.0 gelingen kann?
Für die Umsetzung von Industrie-4.0-Szenarien ist zunächst wichtig, dass die Schnittstellen offen sind. Eine durchgängige horizontale und vertikale Integration setzt voraus, dass alle beteiligten Komponenten eindeutig beschrieben und identifiziert werden können – seien es Sensoren, Maschinen, Anlagen, Daten, Verträge oder auch im Kontext handelnde Personen mit ihren Funktionen und Rollen.
Dafür baruchen wir Modellbeschreibungen und eine gemeinsame Semantik und Syntax. Die „Plattform Industrie 4.0“ arbeitet daran unter dem Stichwort Industrie-4.0-Komponete. Standards wie zum Beispiel OPC UA und W3C sollten dann genau die so definerte Semantik und Syntax für ihren Funktionsbereich übernehmen und spezifizieren. Die OPC Foundation und W3C sind auf dem Wege, genau dies zu tun.
Und wie können die IT- und OT-Standards zusammengeführt werden?
Das ist heute noch schwierig, weil sich die Standardisierungs-Philosophien der OT- und IT-Welt stark unterscheiden. In der OT-Welt ist etwas erst dann ein Standard, wenn es in DIN-Form gegossen ist. In der IT-Welt gilt etwas schon als Standard, wenn es viele nutzen. Stand heute ist es auch nicht möglich, IT- und OT-Standards zusammenzuführen, da sie sich momentan im Referenzarchitektur-Modell auf verschiedenen Ebenen befinden. Wenn aber die gemeinsame Semantik und Syntax definiert sind, dann werden sich die Standards mehr und mehr angleichen. Wenn dann noch die Feldbusse eines Tages von IKT-Technologie ersetzt werden sollten, dann sieht es wieder anders aus.
Industrie 4.0 ist bekanntlich kein Selbstzweck. Wo sehen Sie die Geschäftsmodelle für Industrie 4.0 aus Sicht von HPE?
Wir sind diejenigen, die im Goldrausch die Spaten und Hacken bereitstellen, wir heben nicht selbst das Gold. Sprich: Wir helfen unseren Kunden in der Fertigungs-Industrie, die Potenziale von Industrie 4.0 für sich zu nutzen. Das umfasst erstens die Strategieberatung, zweitens die IKT-Technologien in und zwischen den Maschinen und drittens übergreifende Plattformen für die Umsetzung einer wandelbaren und selbstregulierenden Produktion – in einem einzelnen Werk und über mehrere Werke hinweg. Virtual Fort Knox ist ein Beispiel für eine solche Plattform. Das klingt zunächst nach klassischer Vorgehensweise eines Beraters und Technologie-Lieferanten – aber die Formen der Zusammenarbeit verändern sich durch Industrie 4.0. Sonst haben wir mit der IT-Abteilung gesprochen, über Industrie 4.0 sprechen wir mit Entwicklungsabteilungen, Fertigungs- und Geschäftsleitung. Es ist in vielen Fällen durchaus eine gemeinsame Entwicklung von neuen Produkten, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen, die in Zukunft auch zu gemeinsamen Angeboten oder Geschäftsmodellen führen kann.
Und wie „trainieren“ Sie Ihre Kunden im Hinblick auf Industrie-4.0-Geschäftsmodelle?
Bewährt hat sich zum Beispiel ein Workshop-Format, das wir speziell für diesen Zweck entwickelt haben. Darin spielen Startup-Konzepte eine große Rolle, weil es unserer Überzeugung nach Startup-Mentalität braucht, um die Möglichkeiten der horizontalen Integration auszuschöpfen. In dem Workshop arbeiten wir zusammen mit dem Kunden mit Konzepten wie Lean Startup, Design Thinking oder Minimal Viable Product. Das hilft dabei, alte Denk- und Verhaltensmuster zu überwinden, um etwas wirklich Neues zu entwickeln. Nicht jahrelang entwickeln und dann erst auf den Markt bringen, sondern schnell einen Prototypen entwickeln, mit Kunden testen und kontinuierlich verbessern.
Beispiele?
Über Beispiele können wir leider nicht sprechen, weil wir damit die Geschäftsideen unser Partner offenlegen würden. Nennen können wir aber eine Idee von 2014, die wir gemeinsam mit der Firma Wittenstein entwickelt hatten: Dabei ging es um die Integration digitaler Dienstleistungen in einem Regler, der zur Steuerung von Ventilen in großen Tiefen bei der Ölförderung eingesetzt werden sollte. Wir hatten ein vergleichbares Exponat auf der Hannover Messe 2015 am Stand der Firma Wittenstein gezeigt, das in die Umgebung des Virtual Fort Knox eingebunden war. Unter anderem gelang während der Messe die erfolgreiche Abwehr zahlreicher Hackerangriffen und die umgehende Reaktion auf den Virus „Heart Bleed“.