Oftmals fehle der Blick auf das Ganze. „Es dominiert in vielen Bereichen noch die Einzelbetrachtung“, sagt die Professorin. Die Unzufriedenheit wachse, weil irgendein Prozess zu langsam laufe, die Kosten an einer Stelle zu hoch seien oder der Service in einem anderen Segment unbefriedigend sei. Dann werde dieses eine Teilsystem optimiert, und seine Leistung maximiert, aber die Effizienz im Gesamtsystem steige nicht: „Das lokale Optimum führt meistens nicht zu einem globalen Optimum für die gesamte Fabrik. Nicht jeder Mensch macht sich aber dieses ganzheitliche Denken zu Eigen. Beispielsweise kann ich einen Stau weit hinter mir provozieren, wenn ich im dichten Verkehr mit Tempo 80 auf die Überholspur wechsele, wo der Verkehr mit 110 Kilometer in der Stunde fließt.“
Ist-Prozesse analysieren, um Soll-Prozesse abzuleiten
Viele Entscheider glaubten zudem heute noch, sie müssten nur auf den fahrenden IT-Zug in Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 aufspringen und eine Softwarelösung von der Stange kaufen, dann lösten sich die Probleme wie von selbst. Das sei falsch. Schlechte Prozesse werden dadurch nicht besser, dass sie mit Software unterlegt werden. Im Gegenteil kann die Implementierung einer Software zusätzlich hohe Kosten und Reibungen im Unternehmen verursachen, ohne suboptimale Prozesse zu verbessern. Daher seien die Ist-Prozesse zunächst zu analysieren, um Soll-Prozesse abzuleiten und diese dann digital zu unterstützen. Das kann auch die digitale Vernetzung der Maschinen in der Produktion über sogenannte cyberphysische Systeme beinhalten. Dann nehmen die Maschinen über Sensoren Informationen aus der Umwelt auf, die ausgewertet werden, um über Aktoren Aktionen in der Umwelt auszulösen. „Auf diese Weise können auch die Maschinen miteinander kommunizieren“, sagt Sigrid Wenzel. Die Voraussetzung für Industrie 4.0 ist eine durchgängige digitale Fabrikplanung; die Modelle der digitalen Fabrikplanung sind die Basis für den digitalen Zwilling einer Produktionsanlage.
Soziale Barrieren behindern die digitale Transformation
Der Weg der digitalen Transformation ist allerdings auch durch soziale Barrieren verstellt. Diesen Schluss legt zumindest die Erfahrung von Sigrid Wenzel nahe: „Wenn wir mit unserem Fachgebiet Prozesse analysieren und mittels digitaler Modelle simulieren, dann schaffen wir Transparenz. Wir decken Planungs- und Systemfehler auf. Finden wir Fehler, besteht bei den Zuständigen oftmals Angst vor Kritik und Sanktionen. Transparenz soll aber Vertrauen in das System schaffen: Wir müssen Fehler als systemische Fehler erkennen, und sie nicht als persönliche Fehler fehlinterpretieren.“
Die Einschätzung, dass durch die digitale Transformation die Arbeit ausgehe, sei so nicht richtig. „Die Arbeit geht uns nicht aus“, sagt Sigrid Wenzel, „sie verändert sich inhaltlich; Routinetätigkeiten werden weniger; Arbeitsinhalte werden kreativer. Veränderungsprozesse müssen permanent gelebt werden, da sich die IT schnell weiterentwickelt, Netzwerke variieren und die Komplexität exponentiell mit der Vernetzung der Systeme wächst.“
Die Zeiten, in denen eine Ausbildung für ein Berufsleben von 40 Jahren ausgereicht habe, seien vorüber: „Das funktioniert nicht mehr, und es betrifft alle Berufe. Wir können beispielsweise Arbeitsabläufe der Buchhaltung eines Unternehmens automatisieren oder das Schweißen durch Schweißroboter durchführen lassen. Die zugehörigen Berufsfelder benötigen dann zukünftig andere oder erweiterte Qualifikationen als heute.“
„Wir müssen uns befähigen, die Veränderungen zu gestalten“
„Auch ich weiß nicht, wie das Aufgabenspektrum einer Hochschullehrerin in 20 Jahren aussehen wird“, räumt Sigrid Wenzel ein: „Aber ungeachtet dessen darf ich als Hochschullehrerin nicht aufhören, Studierende für eine Zukunft auszubilden, die ich nicht vollständig kenne. Wir müssen uns befähigen, die kommenden Veränderungen zu gestalten. Der Mensch wird unersetzlich bleiben. Aber gefordert sind mehr denn je Kreativität, ganzheitliches Denken und die Fähigkeit zur Kommunikation. Die Schere wird sich weiten zwischen jenen, die kreativ, sozial und prozessfähig sind, und jenen, die diese Fähigkeiten nicht haben. Ich sage meinen Studierenden und den Unternehmern: Seid Gestalter der digitalen Transformation! Ich sehe die digitale Transformation als Chance, denn sie verändert die Arbeitswelt zugunsten aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sodass wir viel mehr Möglichkeiten haben, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren und in beiden Bereichen aufgehend zu leben. Diese Chance müssen wir nutzen!“
Weitere Informationen zu dem Master of Science Industrielles Produktionsmanagement gibt es unter www.unikims.de/ipm