Digitalisierung

COVID-19 – Bremsklotz oder Turbo?

11. August 2020, 12:00 Uhr | Von Jan Rodig
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Aufgrund der Corona-Krise boomen virtuelle Meetings, Cloud-Software und Online-Tools. Manche sehen die Krise gar als Durchbruch für die Digitalisierung in Deutschland. Doch was genau müssen Unternehmen tun, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen?

Corona hat viele Unternehmensprozesse auf den Kopf gestellt. Um bestehen zu können, mussten Firmen etablierte Geschäftsabläufe quasi über Nacht digitalisieren. So gesehen hat das Virus innerhalb kürzester Zeit wohl mehr erreicht als viele Digitalisierungsinitiativen in den vergangenen Jahren. Jedoch gefährden die stark veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und verschobenen Prioritäten vor allem die langfristige digitale Wettbewerbsfähigkeit vieler Branchen. Um zu verstehen warum das so ist, lohnt zunächst ein Blick auf die derzeitige makroökonomische Situation.

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Abwärtstrend der Wirtschaft bremst Investitionen

Für 2020 prognostiziert die Welthandelsorganisation (WTO) einen Absturz des Welthandels [1] von bis zu 32 Prozent, die Allianz-Gruppe rechnet mit einem Einbruch des deutschen BIP [2] von knapp neun Prozent und der Kreditversicherer Coface erwartet für Deutschland eine Zunahme an Firmeninsolvenzen [3] um zwölf Prozent von Ende 2019 bis Ende 2021. Die staatlichen Wirtschaftshilfen sind hier Segen und Fluch zugleich – die zukünftigen Zins- und Tilgungszahlungen schränken die Profitabilität der betroffenen Unternehmen längerfristig erheblich ein.

Darüber hinaus bleiben die Umsätze in den meisten Branchen noch für längere Zeit unter dem Vorkrisenniveau und Umbauten in den Lieferketten kosten ebenfalls Geld. Im Ergebnis nehmen die Investitionsspielräume in vielen Branchen signifikant ab, da häufig zunächst die Liquiditätssicherung im Fokus steht und die mittelfristigen finanziellen Spielräume eng bleiben. Für strategische Innovationen in digitale Services, neue Geschäftsmodelle und digitale Ökosysteme fehlt vielen das Geld – doch gerade solche Investitionen wären dringend nötig, um den Anschluss in der digitalen Transformation nicht zu verpassen.

Digitalisierung in der Krise

Trotz aller Herausforderungen sollten Unternehmen nicht den Kopf in den Sand stecken – Krisen bergen immer gleichsam Chancen. Nach Überwinden des Liquiditätsengpasses gilt es, die zahlreichen Effizienz-, Transparenz-, Resilienz- und Umsatzpotenziale der digitalen Transformation effektiv zu nutzen, um die Zukunft abzusichern.

In bestimmten Bereichen können Unternehmen dabei auf Unterstützung aus der Politik zählen. Beispielsweise hat es sich die Bundesregierung im Rahmen der Hightech-Strategie 2025 [4] und der »Digitalen Agenda« zum Ziel gemacht, mit dem Fördern von Unternehmen im Bereich Mikroelektronik die digitale Transformation voranzutreiben und Deutschland als starken Wirtschaftsstandort in dem Bereich zukunftsfähig aufzustellen.

digitale Transformation
Bild 1. Die fünf Ebenen der digitalen Transformation.
© Struktur Management Partner

Konkrete Handlungsempfehlungen

Um erfolgreich den Weg in die digitale Zukunft einzuschlagen, hat es sich bewährt, digitale Transformationsvorhaben systematisch entlang von fünf Ebenen zu gestalten (Bild 1).

Mithilfe eines solchen holistischen Ansatzes sind systematisch die relevanten Handlungsbedarfe zu identifizieren und werthaltige Ansatzpunkte konsequent abzuleiten. Nachfolgend wird der Ansatz im Überblick vorgestellt und anhand jeder Ebene jeweils exemplarisch ausgewählte zentrale Handlungsempfehlungen für die (Post)-Corona-Welt erläutert.

1. Digitale Vision und Strategie

Wohin soll die Reise gehen? Für ein erfolgreiches Umsetzen eines digitalen Transformationsvorhabens ist es für Unternehmen zunächst unerlässlich, ein digitales Leitbild (»Nordstern«) und eine entsprechende Digitalstrategie (»Richtung zum Ziel«) zu definieren. Gerade in der VUCA-Welt (Akronym aus volatility – Volatilität, uncertainty – Unsicherheit, complexity – Komplexität und ambiguity – Mehrdeutigkeit) und agilen Arbeitsumfeldern sind solche elementaren Orientierungspunkte (»Leitplanken«) essenziell für die Mitarbeiter und sollten daher entsprechend sorgfältig entwickelt werden.

Eine Digitalstrategie ist dabei eng mit der Unternehmensstrategie zu verzahnen und auf Basis einer realistischen Analyse der digitalen Ausgangslage (»digitaler Reifegrad«) zu formulieren. Hierzu sollten Unternehmen die Implikationen der kritischen Digitaltrends in der Tiefe verstehen und tektonische Verschiebungen im Wettbewerbsumfeld sowie in den Kundensegmenten angemessen berücksichtigen. Schließlich gibt es mit der Digitalisierung zahlreiche neue Wettbewerber – Start-ups, Tech-Riesen, Zulieferer, Unternehmen aus anderen Branchen, Plattformen und so weiter – die oft lange Zeit »unter dem Radar« fliegen, jedoch mittelfristig gefährlich sein können. Klar ist ebenso: In der VUCA-Welt hat die Halbwertszeit strategischer Analysen und Planungen stark abgenommen. Entsprechende Prämissen sind daher regelmäßig zu hinterfragen und deren Implikationen mit dem Einsatz von Szenarien fundiert zu betrachten.

Aktuell macht das ökonomische Beben einen grundlegenden Review jeder Digitalstrategie im industriellen Mittelstand dringend erforderlich. Schließlich sieht das Ergebnis einer digitalen SWOT-Analyse (Akronym für Strengths – Stärken, Weaknesses – Schwächen, Opportunities – Chancen und Threats – Risiken) heutzutage für fast jedes Unternehmen deutlich anders aus als noch vor wenigen Monaten. Ohne eine klare Re-Priorisierung und Anpassung der digitalen Roadmap drohen Verluste von Marktanteilen, digitale Irrelevanz oder erhebliche finanzielle Einbußen.

Empfehlungen:
  • Hausaufgaben machen
    Wer jetzt digitale Transformationsvorhaben systematisch angeht, erarbeitet sich einen wichtigen strategischen Vorsprung. Wichtig dabei ist eine klare Priorisierung, welche vor dem Hintergrund angepasster Investitionsbudgets, knapperer personeller Ressourcen und neuer Strategien den maximalen Nutzen für das Unternehmen schafft. Oft bedeutet das ebenfalls, ambitionierte Visionen (»die führende Plattform…«) zurückzustutzen auf eine optimale digitale Unterstützung des Kerngeschäfts. Hier gilt: Nicht auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzen und sich klar gegen einzelne Vorhaben entscheiden.
  • Chancen im Kundenumfeld erkennen
    Welche Marktveränderungen lassen sich mit einer klugen Digitalstrategie nutzen? Kaufprozesse, Nutzungsgewohnheiten, Arbeitsumgebungen und vieles mehr ändern sich gegenwärtig bei den meisten Kunden. Low-Touch-Bedienung, Wunsch nach Fernzugriffen der Hersteller und Bedarf nach Pay-per-Use-Abrechnungsmodellen aufgrund schwindender Budgets sind lediglich einige Beispiele für attraktive Ansatzpunkte zum Neugestalten des Leistungsportfolios.  
  • Chancen im Wettbewerbsumfeld erkennen
    Es lohnt sich, Fragen zu stellen und die aktuelle Situation zu bewerten: Welcher (digitale) Wettbewerber – beispielsweise Start-ups – schwächelt aktuell? Können wir Unternehmen oder Technologien günstig kaufen? Lassen sich sogar gut eingespielte Expertenteams anwerben? Welche Stärken können wir jetzt ausspielen?
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Bild 2
Bild 2. Die sechs digitalen Werthebel.
© Struktur Management Partner

2. Digitale Werthebel

Die mit der Digitalstrategie definierte grundsätzliche Ausrichtung der Transformation wird mithilfe von sechs Werthebeln weiter konkretisiert (Bild 2). Sie lassen sich entlang der beiden Dimensionen Umsetzungsrisiken und zeitliche Wirksamkeit verorten. Die Werthebel geben an, wie Unternehmen konkret Mehrwerte mithilfe der Digitalisierung schaffen und dienen als Basis für das Entwickeln und Priorisieren konkreter Maßnahmenpakete. Sechs Werthebel lassen sich unterscheiden:

  • höhere Prozess- und Ressourceneffizienz
  • Marketing- und Vertriebsdigitalisierung
  • bessere Entscheidungen (zum Beispiel auf Basis von Daten)
  • Customer Experience-Steigerung
  • neue Produkte und Services
  • neue Geschäftsmodelle

Häufig lassen sich digitale Prozessoptimierungen (beispielsweise mit dem Einsatz von Robotic Process Automation, kurz RPA, in administrativen Bereichen) recht verlässlich kalkulieren und zeitlich schnell umsetzen. Implementierung digitaler Services oder neuer Geschäftsmodelle sind jedoch mit einer hohen Unsicherheit verbunden und erfordern nicht zuletzt einen langen (finanziellen) Atem. Letztere Ansätze sind in der aktuellen Krise mit einem hohen Anpassungsbedarf verbunden, da externe Faktoren laufend neu zu bewerten sind.

Empfehlungen:
  • Unternehmen systematisch scannen
    Mithilfe der sechs Wertehebel lassen sich der Status quo und mögliche Optimierungsmöglichkeiten sowie kurz-, mittel- und langfristige Potenziale klar identifizieren.
  • Produktionsstillstände nutzen
    Jetzt ist die Zeit, um Prozess-Effizienzen (zum Beispiel in der Produktion) zu identifizieren und voranzutreiben. Leerlaufzeiten lassen sich für Prozessdigitalisierungen nutzen.
  • Genau kalkulieren
    Alle Digitalmaßnahmen müssen schonungslos im Hinblick auf ihren Mehrwert bewertet werden. Folgende vier Dimensionen haben sich als Basis für eine klare Priorisierung bewährt: Umsetzungsdauer, Amortisationsdauer, EBIT-Verbesserung (in Prozentpunkten) und strategischer Mehrwert.

 


  1. COVID-19 – Bremsklotz oder Turbo?
  2. 3. Organisation, Kultur und Führung

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