Forschungsneubau der TU München

Wie Architektur Wissen schaffen kann

5. Dezember 2023, 22:11 Uhr | Andreas Knoll
Das äußere Erscheinungsbild und vor allem die künstlerische Gestaltung zeigen die Dynamik, Kreativität und futuristischen Perspektiven der hochgradig interdisziplinären Proteinkomplex-Forschung.
© Carpus+Partner

An der Technischen Universität München (TUM) entstand von 2017 bis 2020 der Neubau des Forschungszentrums für funktionale biomolekulare Systeme. Er zeigt, wie Architektur einen kreativen und kooperativen Forschungsprozess fördern kann.

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Im 2020 fertiggestellten Forschungszentrum für funktionale biomolekulare Systeme der TUM setzen die dort beschäftigten Forscher internationale Maßstäbe in der transdisziplinären Proteinforschung. Als wichtiger Teil des thematisch umfassendsten Forschungsclusters für Bioengineering in Europa gab es für den Neubau am nordöstlichen Rand des Forschungscampus in Garching von Beginn an eine klare Vision: Das neue Gebäude soll den Forschern einzigartige Arbeitsumgebungen bieten, die speziell auf die Anforderungen der jeweiligen Forschungsgebiete ausgerichtet sind, zugleich innovativ die interdisziplinäre Zusammenarbeit beflügeln und dadurch an den Schnittstellen neue Impulse in der Forschungsarbeit unterstützen. Für die Planung und Realisierung wurde die Carpus+Partner AG als Spezialist für die Gestaltung von Wissensgebäuden beauftragt, die diese Vision auf allen Ebenen konzeptionell, planerisch und im Bau mit Leben erfüllt hat – von der Grundrissgestaltung über die Umsetzung der hochspezifischen, technisch und technologisch komplexen Laboranforderungen bis zum ganzheitlich erlebbaren und visuellen Erscheinungsbild des Gebäudes.

Ziel der TUM war es, mit dem Center for Functional Protein Assemblies (CPA) die biomedizinische Forschung weiter zu stärken und auszubauen. So konnten einige der renommiertesten Forscher auf ihren Fachgebieten zur Mitarbeit im neuen Forschungszentrum gewonnen werden. Heute erforschen dort Physiker, Chemiker, Biologen und Ingenieure die Strukturen und molekularen Mechanismen von Proteinen sowie synthetische biomolekulare Systeme. Die Kompetenzbündelung aus den Fachgebieten Proteinchemie, chemische Biologie, Einzelmolekül- und zelluläre Biophysik, DNA-Nanotechnologie, Molekulardynamiksimulation sowie Bioingenieurwesen fördert besonders die interdisziplinäre Entwicklung biomedizinischer Anwendungen zur Heilung von Krankheiten wie Alzheimer und Diabetes.

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»Wir entwickeln Gebäude, die Wissen vermehren«

Das Foyer bildet das Herzstück der Vernetzung und fördert die Kommunikation der Nutzer an den Schnittstellen zwischen den Laborbereichen und Büroflächen.
Das Foyer bildet das Herzstück der Vernetzung und fördert die Kommunikation der Nutzer an den Schnittstellen zwischen den Laborbereichen und Büroflächen.
© Carpus+Partner

Die Unternehmensmission der Carpus+Partner AG beruht auf dem Verständnis, dass Architektur und Gesellschaft in einer Wechselbeziehung stehen: Das Menschenbild unserer Gesellschaft (oder eines Instituts) prägt die Architektur, und die Architektur wiederum prägt das Menschenbild. Damit wird die Aufgabe der Architektur in ihrer ganzen Dimension deutlich. Auch das neue Forschungsgebäude sollte die zukünftige Kultur der in ihm wirkenden Institute abbilden und zugleich mitgestalten. Dafür braucht es eine visionäre Architektur, die gleichermaßen eine mögliche Zukunft antizipiert und die Gebäude auf die sich ändernden Anforderungen an die Forschungsarbeit ausrichtet.

Kreativer Entstehungsprozess im Dialog

Die Zukunft zu sehen und sie in einer visionären Architektur abzubilden, ist ein Prozess, der nur in interaktiver Zusammenarbeit mit den Nutzern möglich ist. Bei der Gebäudeentstehung ist das Planen die Vorstufe des Bauens. Deshalb trägt gerade die Startphase eines solchen Projekts in besonderem Maße zum Gesamterfolg bei. Bereits im November 2015 erarbeitete das Expertenteam von Carpus+Partner gemeinsam mit den verschiedenen Vertretern der Hochschule und den Wissenschaftlern in mehreren kreativen CoLAB-Veranstaltungen die Vision und Grundidee des Gebäudekonzepts. Kernaspekte wie »Flexibilität, Funktionalität, Ökonomie, Transparenz, Modularität« wurden dabei herausgearbeitet, in weiteren Schritten im kontinuierlichen Austausch zu einer gestalterisch hochwertigen und technisch innovativen Planung verfeinert und mit viel Energie auf der Baustelle in gebaute Wirklichkeit umgesetzt.

Neues Wissen entsteht an Schnittstellen

Für die Labore der unterschiedlichen Forschungsdisziplinen mussten hochkomplexe spezifische Anforderungen aus der Proteinforschung berücksichtigt werden.
Für die Labore der unterschiedlichen Forschungsdisziplinen mussten hochkomplexe spezifische Anforderungen aus der Proteinforschung berücksichtigt werden.
© Carpus+Partner

Daten als Rohmaterial sind heute in einem nie dagewesenen Maße verfügbar, und erst durch ihre Strukturierung entstehen Informationen. Wissen jedoch entwickelt sich im Moment der Vernetzung, in Beziehungen und im Austausch mit anderen Menschen. Deshalb steht der Mensch mit all seinen Bedürfnissen im Fokus der Wissensarchitektur der Carpus+Partner AG, die Räume und Wege für Begegnung, Interaktion und Kommunikation schafft. Entsprechend bietet das Forschungszentrum geschlossene Bereiche für individuelle Forschungsarbeit und Rückzugsmöglichkeiten zur Erholung genauso wie zahlreiche kommunikative und offene Bereiche im Innen- wie im Außenbereich für die Vernetzung, den Austausch und die Zusammenarbeit der Forschungsgruppen. Die Bewegung der Menschen im Gebäude verbindet die einzelnen Bereiche unterschiedlicher Disziplinen und Tätigkeiten wie Labore mit Büros oder Arbeitsplätze mit Meetingräumen. Die Verbindung von Bewegung mit Begegnung ermöglicht Kommunikation. Im gesamten Gebäude sind deshalb die Besprechungsräume und zahlreiche Möglichkeiten zum Aufeinandertreffen entlang der Hauptbewegungspfade angelegt. Weitere Begegnungsorten sind beispielsweise auch der ruhige und geschützte Innenhof, die einladende Cafeteria oder die Holzterrassen in den naturnahen Freibereichen des Wiesäcker Bachs.

Das Herzstück der Vernetzung bildet das großzügige Foyer, in dem eine repräsentative Freitreppe alle Etagen miteinander verbindet. Die besondere Gestaltung bricht hier bewusst mit der klaren Geometrie der Gebäudestruktur und unterstreicht so die Besonderheit dieses Ortes. Die gesamte Fläche ist so gestaltet, dass die Interaktion zwischen den einzelnen Ebenen unterstützt wird. Im Erdgeschoss weitet sich die Treppe, und die breiten Sitzstufen laden zum Verweilen ein. Als Treffpunkt eignet sich das Foyer mit zusätzlichen Sitzmöglichkeiten und Sitzgruppen auch für Vorträge und Veranstaltungen. Der flexibel nutzbare Konferenzraum im Erdgeschoss, die Mitarbeiterlounge sowie die Besprechungs- und Pausenzonen auf jeder Etage schaffen zudem multifunktionale Räume zum informellen und formellen Austausch. Diese Kommunikationsräume bilden die Schnittstelle zwischen den Labor-, Büro- und Besprechungszonen.

Interdisziplinäre Gestaltung fördert Innovationen

Die Regelgeschosse sind in die Nutzungsarten Büro und Labor geclustert. Hierdurch lassen sich sowohl Zugangskontrollen zu den Laborbereichen als auch eine individuelle Gestaltung dieser Raumgruppen entsprechend ihrer technischen Anforderungen sicherstellen. Die funktionalen Arbeitsbereiche finden sich über drei Regelgeschosse verteilt. Hierzu gehören hochinstallierte, chemische und physikalische Labore ebenso wie großzügige Computerpools. Für eine angenehme Arbeitsatmosphäre in den Laboren sorgen jeweils geräumige Auswertezonen mit Tageslicht entlang der Fassade mit Ausblicken – je nach Himmelsrichtung – auf den Campus, die Landschaft und an klaren Tagen bis zu den Alpen. Im Erdgeschoß befinden sich gemeinsam genutzte Räume für Großgeräte und Spezialanalytik wie auch die Seminarbereiche für Wissensaustausch und -vermittlung.

Bauliche Umsetzung hochkomplexer Laboranforderungen

Vor allem bei der Gestaltung und technischen Ausrüstung der Labore für die unterschiedlichen Forschungsdisziplinen galt es, hochkomplexe spezifische Anforderungen aus der Proteinforschung zu berücksichtigen und fachgerecht auf über 3000 qm Laborfläche und 1,6 km Laborbench – also die Fläche aller Laborarbeitsplätze an einem Stück – zu realisieren. So war zum Beispiel der Anschluss aller Laborbereiche an eine Reinstwasseranlage nach neuestem technischem Standard erforderlich, um für ideale Forschungsbedingungen zu sorgen. Im physikalischen Labor im Erdgeschoss werden hochauflösende Analysegeräte eingesetzt, etwa ein Kryo-Elektronenmikroskop, Laser und weitere sehr schwingungssensitive High-Tech-Instrumente wie Spektrometer oder optische Fallen. Die hochempfindlichen Geräte reagieren auf kleinste Erschütterungen und registrieren sogar Schwingungen, wie sie ein LKW noch in 300 m Entfernung erzeugt. Um eine effektive Schwingungsdämpfung sicherzustellen, wurden alle empfindlichen Geräte durch Spezialfundamente von ihrer Umgebung entkoppelt. Für die hochinstallierten Biochemielabore zur Proteinforschung galt es, die Sicherheitsstufen 1 und 2 nach der Gentechniksicherheitsverordnung (GenTSV) zu realisieren und die Durchführung von Experimenten auch über Nacht zu ermöglichen. Deshalb wurden für den nötigen Brandschutz auch selbsttätige Kleinlöschanlagen in Laborabzügen installiert. Zum Schutz vor der elektromagnetischen Strahlung, die beispielsweise durch Kernspintomografie für Strukturanalysen von Flüssigproben in NMR-(Nuclear Magnetic Resonance)-Spektroskopie-Laboren entsteht, wurde zusätzlich zu den vorgeschriebenen Strahlenschutzmaßnahmen auf entsprechende Sicherheitsabstände und geeignete Nutzungsarten für benachbarte Räumen innerhalb des Gebäudes geachtet.

Architektur als Projektionsfläche

Die Oberflächengestaltung und der großzügige Tageslichtbezug erzeugen eine angenehme Arbeitsatmosphäre in den Laboren.
Die Oberflächengestaltung und der großzügige Tageslichtbezug erzeugen eine angenehme Arbeitsatmosphäre in den Laboren.
© Carpus+Partner

Auch das äußere Erscheinungsbild und die Fassade sollten die Dynamik, Kreativität und futuristischen Perspektiven der hochgradig interdisziplinären Proteinkomplex-Forschung widerspiegeln. Dabei sollte sie vor allem die Menschen auf dem Campus ansprechen, anziehen sowie zu Beteiligung und Diskurs einladen.

Die klare geometrische Formsprache der Fassade, bestehend aus rhythmisch gegliederten geschlossenen und offenen Elementen, bildete die Leinwand für innovative Gestaltungsideen, die im Rahmen eines künstlerischen Wettbewerbs gesucht wurden. Die Künstlerin Ina Rosenthal konnte die hochkarätig besetzte Fachjury mit ihrem Entwurf überzeugen.

Mit ihrer Gestaltung spiegelt Rosenthal die Welt der Proteinforschung auf kreative Weise ins Außen und macht deren Komplexität mit einem »markanten Gesicht« für Beteiligte und Unbeteiligte erlebbar. Die horizontale Strukturierung der Komposition symbolisiert die vier Strukturebenen der Proteine: Von den Aminosäuresequenzen in Einzelsträngen im unteren Gebäudebereich über deren räumliche Anordnung etwa als Alpha-Helix oder Beta-Faltblatt, aus deren Kombination auf der dritten Ebene einfache funktionsfähige Proteine entstehen, bis hin zur Zusammenlagerung dieser Proteine in visuellen Clustern zu Proteinkomplexen im oberen Fassadenbereich.

Dabei greift die Künstlerin die klare Geometrie des Baukörpers sowie das strenge, in der Nutzung begründete Ausbauraster auf, das seine Entsprechung in der baulich seriell strukturierten Fassadengestaltung findet. Die geometrische Formensprache schafft so einen Bezug zu den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie zur Medizin. Spielerisch wechseln sich auf der metallischen Gebäudeaußenhaut aus Alucobondplatten verschiedene Blau-, Grün- und Gelbtöne in gebäudeumlaufenden Farbübergängen und einer pixelartigen grafischen Grundstruktur ab, die den gesamten Baukörper in Varianten, Spiegelungen, Drehungen und Brechungen überzieht.

Das Große ist im Kleinen bereits enthalten, wobei der Verlauf als Metapher steten Wandel, Bewegung und Entwicklung symbolisiert. Visuell entsteht so eine bewegte, chaotische Lebendigkeit auf einer unbewegten Struktur, die das Wirkungsprinzip der Proteine zitiert. Damit gibt die Künstlerin der Dynamik der Proteinfaltung und den vielfältigen Phänomenen, die entstehen, wenn Proteine zusammenwirken, einen starken visuellen Ausdruck, der zu Vernetzung und gedanklichen Experimenten motiviert, Meinungen bildet, in seiner Wahrnehmung teils emotional polarisiert und zur Diskussion anregt.

Visionäre Wissensgebäude als ganzheitliches Konzept

Das hier dargestellte Beispiel des interdisziplinären Forschungszentrums für funktionale biomolekulare Systeme der TU München verdeutlicht das Potential, das eine ganzheitliche Gebäudeentwicklung bietet, die in jeder Phase – von der Planung bis zur Realisierung – konsequent die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Gebäude können dann in Forschung, Wirtschaft und Wissenschaft intelligent und optimal Wissen vermehren, wenn sie an den menschlichen Grundbedürfnissen nach Austausch, Lernen, Bewegung, sozialer Interaktion und Kommunikation – in kleinen Gruppen wie auch mit der gesamten Umwelt – sowie den hochspezialisierten Anforderungen in komplexen und hochtechnisierten Arbeitsumgebungen ausgerichtet sind und diese wirksam auf allen Ebenen berücksichtigen.


  1. Wie Architektur Wissen schaffen kann
  2. Daten und Zahlen zum Neubau des Forschungszentrums

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