Rennen die jetzt startenden Ingenieurs-Erstsemester in einen Schweinezyklus hinein? Für den Bereich Elektronik sind die Aussichten bestimmt nicht schlecht, Herausforderungen wie Energiewende, Elektromobilität oder Medizintechnik brauchen Ingenieure. Doch was Prognosen wert sind, zeigt ein Blick auf die gerade sterbende PV-Industrie in Deutschland. Hätte das jemand vor wenigen Jahren für möglich gehalten, angesichts der Herkules-Aufgabe Klimawandel?
Die Studentenzahlen in den Ingenieurwissenschaften stiegen laut Statistischem Bundesamt im letzten Jahrzehnt um fast 100.000 auf rund 384.000. Bislang ist die Arbeitslosenquote niedrig und vor allem bei den älteren Elektroingenieuren im letzten Jahrzehnt massiv gesunken: von 7783 in 1996 auf 1756 in 2010.
Folgendes meldet aktuell der VDI: Die Zahl der offenen Stellen für Ingenieure habe im Februar mit 105.700 offenen Stellen für Ingenieure erstmals die Schwelle von 100.000 überschritten. Die Zahl arbeitsloser Ingenieure sei gegenüber dem Vormonat leicht zurückgegangen und habe bei 18.882 gelegen. Mit 35.300 Personen fehlten laut VDI am meisten Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure, am zweithäufigsten Elektroingenieure mit 22.000 Personen. Regional seien von der Lücke vor allem Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern betroffen.
Demgegenüber steht eine Rekordzahl an Studienanfängern in den Ingenieurswissenschaften, die aber laut VDI immer noch nicht ausreiche, um den durch den demographischen Wandel entstehenden Mangel langfristig zu beheben. Selbst die Bundesregierung erkenne das nun an, wie der VDI zufrieden feststellt: „Der VDI begrüßt, dass nun auch die Expertenkommission der Bundesregierung für Forschung und Innovation vor den Gefahren der Arbeitsmarktengpässe bei technisch-naturwissenschaftlichen Qualifikationen für den Innovationsstandort Deutschland warnt“, so VDI-Direktor Dr. Willi Fuchs.
Das heißt längst nicht, dass die Bundesregierung einen großflächigen Mangel an Ingenieuren konstatiert, so wie es der VDI zusammen mit dem Institut der Deutschen Wirtschaft tut. Denn es existieren keine wirklich belastbaren Zahlen dazu. Was es jedoch gibt, ist ein „gefühlter Ingenieurmangel“: Headhunter wie auch Unternehmen berichten, dass es wesentlich schwieriger geworden sei, bestimmte Positionen zu besetzen.
In der öffentlichen Wahrnehmung dagegen scheint es einen flächendeckenden Ingenieurmangel zu geben, was ein Hinweis darauf sein könnte, warum jetzt die Unis gestürmt werden (neben Gründen wie doppeltem Abiturjahrgang und abgeschaffter Wehrpflicht). Und selbst eine große süddeutsche Tageszeitung scheint der Zahlenschlacht des IW/VDI erlegen zu sein: So erschien jüngst zwar ein durchaus kritischer Beitrag über den Run auf die Hochschulen und seine möglichen Folgen, wie zum Beispiel sinkende Gehälter und stärkere Konkurrenz unter Akademikern. Doch der Autor schreibt wörtlich: „Bei den Ingenieuren sind schon jetzt mehr als 100.000 offene Stellen gemeldet.“
Wirklich? In Wahrheit handelt es sich bei den 100.000 offenen Ingenieursstellen doch um eine errechnete, nicht tatsächlich gemeldete Größe. Sein Urheber, das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft stützt sich mit seinen regelmäßigen Erhebungen auf Angaben zur Fachkräfte-Altersstruktur in den Unternehmen und ob diese demnächst die Absicht haben, neue Leute einzustellen.
In die Berechnung fließen zudem die offenen Ingenieurstellen ein, die der Bundesagentur für Arbeit (BA) vorliegen. Sie werden mit dem Faktor 7,14 multipliziert - weil es schließlich viel mehr unbesetzte Stellen gebe, als die Behörde wüsste. Denn Ingenieure würden seltener über die Arbeitsagenturen gesucht als niedriger qualifiziertes Personal. Zum Schluss zieht das IW die Zahl der arbeitslos gemeldeten Ingenieure ab – und heraus kommt die „Ingenieurslücke“. Ob 7,14 ein realistischer Faktor ist, darüber streitet die Fachwelt.
Der Arbeitsmarkt-Experte des DIW, Karl Brenke, hält den Fachkräftemangel für eine Fata Morgana und hat das sinngemäß zuletzt auch wieder über den Wochenbericht des DIW publiziert. Brenke ist der Lieblingsfeind von VDI/IW, die ihre Methode als wissenschaftlich sauber rechtfertigen. Der Verband der Elektronik, Elektrotechnik und Informationstechnik (VDE) hingegen hielt den Ball in der Vergangenheit (Fachkräftemangel-Boomjahr 2008!) schon immer wesentlich flacher als der VDI. VDE-Arbeitsmarktexperte Michael Schanz kommentierte die IW-Erhebungen kritisch. Ein Mehrbedarf, ja. Anlass zu Panik? Gewiss nicht.
Und auch Gespräche mit Headhuntern zeigen: Unternehmen stellen seit Jahren hohe und höchste Ansprüche an potenzielle Bewerber und lassen von diesen auch nicht wirklich ab, selbst wenn das die Suche verlängert. Ausnahmen gibt es freilich, etwa (schon lange) im Bereich Analogtechnik oder (sehr aktuell wegen der Entwicklung von Energiespeichern) im Umfeld Elektrochemie. Hier nehmen die Unternehmen sogar Geld in die Hand, um den Nachwuchs an eigenen oder geförderten Instituten weiterzubilden, weil die Universitäten den Bedarf nicht mehr decken.
Und doch gilt auch aktuell: Ein Ingenieursstudium ist kein Freischein auf den Rundum-Glücklich-Wunschjob. Viele große und bekannte Arbeitgeber, allen voran BMW, bedienen sich lieber großzügig der Arbeitnehmerüberlassung, anstatt Ingenieure fest anzustellen. Ist das ein Kennzeichen für Fachkräftemangel?
Dazu kommen quälend langsame und unprofessionelle Recruiting-Routinen vor allem bei größeren Arbeitgebern, die so manchen qualifizierten Bewerber sauer fahren. Darf man sich das leisten, wenn es um derart kostbare Bewerber geht?
Und auch der Jugendwahn ist längst nicht überstanden, auch wenn die Arbeitslosigkeit unter älteren Ingenieuren massiv gesunken ist. Am liebsten stellen Unternehmen junge Absolventen frisch von der Uni ein. Sie sind formbar und vergleichweise billig.
Zuletzt zeigt ein Blick auf die Gehälter, dass wir uns augenscheinlich in einem ganz normalen Rahmen bewegen. In "offizieller Runde" machen Durchschnitts-Einstiegsgehälter von 42.000 bis 45.000 Euro die Runde. Angebote von 30.000 bis 35.000 gibt es aber auch, zum Beispiel im Osten. 2012 sind die Gehälter in der Elektronikindustrie um 3 Prozent gestiegen, und man kann sich fragen, ob das ein angemessener Anstieg ist angesichts des „gefühlten“ Fachkräftemangels.
Am ehesten sorge ich mich um Maschinenbau- und Fahrzeugingenieure in der Automobilindustrie. Was, wenn in China… stopp. Ich hatte ja versprochen, kein Spielverderber zu sein.