Die europäische Leiterplattenindustrie droht zu verschwinden – mit fatalen Folgen für sicherheitskritische Bereiche. Der plötzliche Nachfrageanstieg aus dem Defense-Sektor sollte genutzt werden, um die Entwicklung umzukehren, erklärt Branchenanalyst Dieter G. Weiss im Interview mit Markt&Technik.
Markt&Technik: Wie beurteilen sie die gegenwärtige Situation in der europäischen Leiterplattenindustrie?
Dieter G. Weiss, Data4PCB: Im vergangenen Jahr ist der Umsatz der europäischen Leiterplattenindustrie gegenüber 2023 um 4,2 Prozent gefallen. In Deutschland ist er in den ersten acht Monaten 2024 um 7,7 Prozent zurückgegangen, die ersten acht Monate 2025 erreichten ein zartes Plus von 1 Prozent. Demgegenüber wird der Leiterplattenmarkt weltweit in diesem Jahr um 6 Prozent wachsen. Das zeigt: Der globale Marktanteil Europas geht weiter zurück – keine guten Aussichten für Europa!
Wie groß ist der Anteil Europas am globalen Leiterplattenmarkt?
2024 lag er bei 2,2 Prozent. Rechnet man Russland und Weißrussland heraus, dann kommen wir auf 1,95 Prozent. In diesem Jahr erwarte ich einen globalen Anteil von 1,85 Prozent.
Dazu kommt noch, dass nur 20 Prozent aller Leiterplattenhersteller in Europa – insgesamt sind es 174 – auf 80 Prozent des Umsatzes kommen. Es gibt sehr viele kleine Firmen, die unter 2 Millionen Euro Umsatz pro Jahr erwirtschaften. Viele von ihnen werden sterben. Mit der Leiterplattenindustrie geht es insgesamt weiter bergab.
Als in Folge von Corona die weltweiten Lieferketten zusammenbrachen, waren die kleinen europäischen Lieferanten doch wieder gefragt?
Ja, plötzlich standen die Anwender Schlange, die Auftragslage war gut, und auch die kleineren Unternehmen wuchsen. Es bestand die Hoffnung, dass die großen Abnehmer sich wegen dieser Erfahrung künftig wenigstens teilweise aus Europa versorgen würden, um nicht zu abhängig von Fernost zu werden. Aber als sich die weltweite Lieferkettensituation ab 2021 wieder verbesserte, war alles verflogen, und die Ergebnisse wurden ab 2022 wieder schlechter. Dabei können die Lieferketten jederzeit wieder empfindlich gestört werden – Bedrohungen gibt es derzeit ja leider mehr als genug!
Dass das Advanced Packaging strategisch von großer Bedeutung ist und ohne eine gewisse Hoheit über die Fertigung die kritischen Industrien einschließlich Defense von Lieferungen vollkommen abgeschnitten werden könnten, hat die Politik auf EU- und nationaler Ebene inzwischen erkannt. Den Leiterplatten kommt eine ähnlich hohe Bedeutung zu wie dem Advanced Packaging – und hier tut sich nichts?
Die EU unterstützt in erster Linie die Front-End-IC-Fertigung, um hier international aufzuholen. Doch daran gemessen steht es um die Leiterplatten und auch die EMS-Industrie noch viel schlimmer. Es ist schön, dass die Bedeutung des Advanced Packaging inzwischen offenbar auch erkannt wurde. Mit den Leiterplatten verhält es sich jedoch ganz ähnlich, außerdem sind die Grenzen zwischen Advanced Packaging und der Leiterplattenfertigung fließend, Kenner der Materie wissen das. Bis auf die Ebene der Politik hat sich das aber noch nicht herumgesprochen. Dabei bilden die Leiterplatten ein wesentliches Element im Ökosystem, innerhalb dessen die neuesten Chipgenerationen gefertigt werden, die für Industrie, Automotive, Luft- und Raumfahrt sowie Defense unverzichtbar sind.
Wenn die dazu erforderlichen hochqualitativen Leiterplatten nicht vor Ort gefertigt werden, können die Anwender von ihren Lieferanten vollständig abgeschnitten werden, dann könnten unsere kritischen Systeme nicht mehr funktionieren. Das ist den Politikern in Brüssel und auch in Deutschland offenbar ganz und gar nicht bewusst – im Gegenteil, wir bekommen sogar noch Knüppel zwischen die Beine geschmissen!
Können Sie ein Beispiel nennen?
Um Leiterplatten fertigen zu können, sind die Hersteller auf die entsprechenden Rohstoffe angewiesen, im wesentlichen FR4 und Kupfer. Gab es in Europa vor 45 Jahren noch 22 Hersteller von Basismaterialien, so sind davon heute drei übriggeblieben, wovon Panasonic Ende des Jahres sein Werk in Österreich schließen wird. Bleiben noch Isola und Aismalibar. Dabei muss man wissen, dass Aismalibar sich vor allem auf Laminate für den Einsatz in Gebieten außerhalb der Elektronik konzentriert. Den Umsatz des Unternehmens mit FR4 schätze ich auf 10 Prozent. De facto gibt es also mit Isola nur noch einen europäischen Lieferanten für Basismaterialien, der sich auf Materialen konzentriert, die in der Leiterplattenfertigung benötigt werden.
Wo bleibt der Knüppel?
Der kommt jetzt: Ein Leiterplattenhersteller, der die Basismaterialien und Kupferfolien aus Asien beziehen muss, weil es kaum anderen Quellen gibt, muss je nach Typ circa 6,5 Prozent Einfuhrzoll bezahlen, was die Leiterplattenfertigung hier in Europa noch teurer macht als in Asien.
Dagegen müssen Anwender, die ihre Leiterplatten in Asien kaufen, diesen Aufpreis nicht bezahlen, denn auf die Einfuhr der Leiterplatten wird kein Zoll erhoben. Die Leiterplattenindustrie hierzulande wird also von den Behörden schlechter gestellt als der Wettbewerb aus Asien. Das ist doch absurd!
Leider sieht die geopolitische Situation im Moment so aus, dass Defense in den Vordergrund rückt und ein großer Bedarf besteht. Wird diese Entwicklung nicht dazu führen, dass nun auch die Leiterplattenindustrie ins Scheinwerferlicht rückt?
Diese Entwicklung hilft der Leiterplattenindustrie tatsächlich und sorgt dafür, dass sich die Nachfrage belebt. Defense wäre ein sehr sinnvoller Markt, um die Leiterplattenindustrie in Europa zukunftsfähig zu machen.
Stehen unter den derzeitigen Bedingungen überhaupt genügend Kapazitäten zur Verfügung, um die steigende Nachfrage erfüllen zu können?
Ich bin überzeugt davon, dass es genügend Kapazitäten gibt. Denn die Industrie arbeitet gegenwärtig nur mit halber Kraft, heute fertigen viele Leiterplattenhersteller meist im Einschicht-, die Größeren im Zweischichtbetrieb. Die Kapazitäten könnten also sehr einfach sehr schnell gesteigert werden.
Der Bedarf an Leiterplatten für Defense steigt. Hat Teltonika deshalb gerade ein neues Leiterplattenwerk mit einer Fläche von 33.000 m² in Vilnius eröffnet – das größte, das seit zwei Jahrzenten in Europa gebaut wurde?
TLT Teltonika hat gerade in Vilnius den High Tech Hill eröffnet, zu dem neben dem neuen Leiterplattenwerk eine neue Fabrik für Kunststoffspritzguss und Maschinenbau, ein neues EMS-Werk und ein neues Assembly-, Packaging- und Test-Werk gehören. Mit diesem vertikal integrierten Ansatz wendet sich das Unternehmen an Anwender in den Sektoren Verteidigung, Medizintechnik und Automotive, die vom hohen IP-Schutz, der Lieferkettensicherheit und höherer Qualität profitieren sollen – und geneigt wären, dafür einen etwas höheren Preis zu bezahlen.
Könnten Leiterplatten tatsächlich so manipuliert werden, dass sich Geräte im Ernstfall von interessierter Seite einfach »ausknipsen« ließen?
Das wäre tatsächlich möglich, Leiterplatten sind sehr einfach zu manipulieren. Das belegt auch die Panda-Studie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik von diesem Jahr. Dann funktioniert zum Beispiel ein Drohnenabwehrsystem plötzlich nicht mehr, wenn es gebraucht würde.
Kaufen deshalb die Unternehmen der Defense-Industrie ihre Leiterplatten nicht sowieso schon aus europäischen Quellen ein?
Einige Rüstungsunternehmen – auch manche aus anderen Industrien – kaufen bereits aus Sicherheitsgründen in Europa ein. Aber bei Weitem nicht alle!
Gibt es genügend europäische Leiterplattenhersteller, die die Rüstungsindustrie beliefern könnten?
Vom fertigungstechnischen Standpunkt aus dürfte das kein Problem sein. Es gibt in Deutschland und Österreich genügend Unternehmen, die das ohne weiteres könnten. Das gleiche gilt für andere europäische Ländern wie Frankreich, Belgien, UK und einige osteuropäische Staaten, insbesondere jetzt Litauen.
Reicht die steigende Nachfrage aus dem Defense-Sektor, um die europäische Leiterplattenindustrie aus der Krise zu führen? Oder ist die Politik zusätzlich gefordert?
Es würde schon viel helfen, wenn ein Gesetz erlassen würde, das die europäische Defense-Industrie dazu verpflichtet, nur von vertrauenswürdigen westlichen Quellen zu kaufen. Leiterplatten, die in sicherheitskritischen Bereichen Einsatz finden, dürfen nicht aus Fernost kommen! Das würde maßgeblich zu unserer Sicherheit beitragen und der Leiterplattenindustrie einen Schub geben – und den Steuerzahler würde es nichts kosten. Das könnte die Leiterplattenindustrie wieder auf den Wachstumspfad bringen. Die europäischen Leiterplattenhersteller könnten dann kostendeckende Preise kalkulieren und wieder in die Zukunft investieren.
Was sollte noch getan werden?
Warum sollten die OEMs und EMS nicht durch steuerliche Anreize motiviert werden, circa 20 Prozent ihres Grundbedarfs an Leiterplatten aus Europa zu beziehen? Dann könnte die Leiterplattenindustrie wieder wachsen. Das würde sie in die Lage versetzen, in die Fertigung von Leiterplatten für weitere Sektoren wie Automotive, Medizin und Industrie zu investieren und weiter zu prosperieren. So hätte die europäische Leiterplattenindustrie eine Zukunft.
Das würde den OEMs nicht unbedingt gefallen …
… aber es ist eine einfache Rechnung: Die Leiterplatte macht heute in der Kalkulation gerade einmal circa 4 Prozent der Kosten einer Baugruppe aus. Wenn diese 25 Prozent teurer würde, sind das 1 Prozent höhere Kosten für die Baugruppe. Diese wird in Elektronikmodule verbaut, und da reden wir dann von Mehrkosten von deutlich unter 1 Prozent, das sollte uns unsere Sicherheit wert sein. Mit der »Geiz ist geil«-Strategie wird sich da aber nichts tun und daher ist die Politik gefragt. Das müsste aber aus der EU insgesamt kommen, und da bin ich eher skeptisch, ob man sich darauf einigen könnte. Derzeit bleibt die Situation schwierig, im Grunde ist es ein Trauerspiel, das wir zum 50. Geburtstag der productronica erleben.