Entwicklungsprozesse für Infotainment-Systeme im Wandel

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27. April 2012, 9:43 Uhr | Moritz Kümmerling, Marius Orfgen und Gerrit Meixner
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automotiveHMI als Lösungsansatz

Bild 2. Das Projektkonsortium (VDE, Harman, Becker, Continental und MAN sind assoziierte Partner).
Bild 2. Das Projektkonsortium (VDE, Harman, Becker, Continental und MAN sind assoziierte Partner).
© DFKI

Diese Zielsetzung wird im Forschungsprojekt automotiveHMI verfolgt. In dem von öffentlicher Hand geförderten Verbundvorhaben arbeiten mehrere deutsche Automobilhersteller und -zulieferer gemeinsam an der Entwicklung eines domänenspezifischen, modellbasierten Austauschformats zur Spezifikation moderner Infotainment-Systeme (Bild 2). Das Format soll zunächst bei den Konsortialpartnern und langfristig im Zuge eines Standardisierungsprozesses nach Projektende branchenweit in Deutschland Anwendung finden.

Für die Entwicklung des neuen Austauschformats wurde zunächst eine umfangreiche Analyse des Ist-Standes in der HMI-Entwicklung bei allen Industriepartnern des Projekts durchgeführt (der Gesamtaufwand der Analyse belief sich auf über 25 Personenmonate). Die Analyse wurde aus Gründen der Neutralität und Unabhängigkeit durch die beiden im Projekt beteiligten Forschungsinstitute durchgeführt. Die auf diese Art gewonnenen Erkenntnisse haben zur Bildung eines HMI-Referenzentwicklungsprozesses geführt, der im Konsortium abgestimmt wurde. Der abgestimmte Referenzprozess bildete anschließend die Grundlage für die Ableitung der Anforderungen an eine neue Modellierungssprache für Infotainment-Systeme. Im nächsten Schritt wurden die Anforderungen an die Sprache den einzelnen Prozessschritten und den darin jeweils involvierten Rollen zugeordnet. Beispiele für die abgeleiteten Anforderungen sind die Notwendigkeit, sowohl ab­strakte als auch konkrete Screens (Bildschirminhalte) beschreiben zu können, das Modellieren von Zustandsautomaten, das Annotieren von Entwicklungsartefakten und die durchgängige Nachverfolgbarkeit von Artefakten (Traceability). Parallel hierzu wurden existierende Beschreibungssprachen für Benutzerschnittstellen (User Interface Description Languages, UIDLs) sowohl aus dem Automotive-Kontext als auch aus anderen Domänen auf ihre Tauglichkeit als Austauschformat für die Spezifikation von Infotainment-Systemen hin untersucht. Hierbei dienten die zuvor erhobenen Anforderungen als Auswahlkriterien.

Die Recherche- und Analyse-Arbeiten ergaben u.a., dass existierende Modellierungssprachen den Fokus zu stark auf die Phasen der Systementwicklung legen und Prozess-Schritte und Arbeitsergebnisse besonders in den Phasen der Konzeptbildung und Systemspezifikation nur unzureichend abgedeckt werden können. Ferner zeigte sich, dass Anforderungen bzgl. einer formalen Erfassung von Entwicklungsalternativen und -varianten mit bestehenden Sprachen nicht erfüllbar sind. Mit diesem Wissen über die Stärken und Schwachstellen vergangener Ansätze wie OEM-XML und den Erkenntnissen aus der allgemeinen MBUID-Forschung (Model-Based User Interface Development) erfolgt im Projekt automotiveHMI eine Neuentwicklung einer domänenspezifischen Modellierungssprache zur Spezifikation moderner Infotainment-Systeme.

Die größte Herausforderung bei der Neuentwicklung eines modellbasierten Austauschformats liegt im Übergang von informellen hin zu formalen Systemspezifikationen. Da der gesamte HMI-Entwicklungsprozess durch das neue Format abgedeckt sein muss, gilt es, sowohl kreative Prozessschritte während der Konzeptbildung als auch detaillierte Entwicklungsartefakte der Feinspezifikation formal erfassen und abbilden zu können. Der Zenit in Bezug auf den Formalisierungsgrad ergibt sich jedoch als Anforderung aus dem modellbasierten Testen, was neben dem eigentlichen Austauschformat ein zweiter wichtiger Pfeiler des Forschungsprojekts ist.

Bild 3. Formale (test-orientierte) HMI-Spezifikation.
Bild 3. Formale (test-orientierte) HMI-Spezifikation.
© DFKI

Trotz sich verändernder Entwicklungsprozesse werden die Fahrzeughersteller auch künftig das fertige HMI-System gegen die anfänglich fixierten Vorgaben (Systemspezifikation) und auf Fehlerfreiheit prüfen. Durch die steigende Komplexität und Variantenvielfalt der Infotainment-Systeme stoßen klassische Testverfahren dabei jedoch an ihre Grenzen. Abhilfe kann das modellbasierte Testen der Systeme bieten. Hierfür werden bislang die erforderlichen Testmodelle aufwändig manuell und meist parallel zur Systemspezifikation miterstellt. Mit der Einführung eines maschinenlesbaren Spezifikationsformats ist es angedacht, zukünftig auf dem Systemmodell aufzusetzen und dieses so weit zu formalisieren, dass daraus Testfälle abgeleitet werden können (Bild 3).

An einem Ende des Entwicklungsprozesses stehen also Prozessschritte, deren Teilergebnisse eher informellerer Natur sind und an deren Erstellung vornehmlich Geisteswissenschaftler, Ergonomen und Designer beteiligt sind. Beispiele hierfür sind Mock-ups für den grundlegenden Bildschirmaufbau, verschiedene Design-Varianten für Buttons oder das Dialogmodell für das Infotainment-System. Am anderen Ende des Entwicklungsprozesses stehen die Tester auf Seiten des OEM, die für ihre Testmodelle Wissen über das Infotainment-System in formaler und maschinenlesbarer Form benötigen – also eine formale Systemspezifikation, in der für jeden Bildschirminhalt vollständige Angaben über pixel-genaue Bildpositionen und Farbangaben vorliegen und in der das komplette Verhalten des Infotainment-Systems über verzweigte und priorisierte Zustandsautomaten abgedeckt ist.


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