Mit JetWeb gab Jetter den Anstoß für IE

Unbeabsichtigt zum Industrial-Ethernet-Pionier

2. August 2023, 11:30 Uhr | Andreas Knoll
Eine JetWeb-Anlage aus den frühen 2000er-Jahren. Bei ihr sind alle Drives über Switches mit Ethernet vernetzt. Das Ethernet ist echtzeitfähig und hierarchielos, es erstreckt sich also von der Leitebene und der Steuerungsebene bis zur Feldebene.
© Jetter

Mitten im sogenannten Feldbuskrieg hat Martin Jetter den Stein für Industrial Ethernet ins Rollen gebracht – und wurde mit seiner Jetter AG selbst von der Entwicklung fast überrollt. 24 Jahre später ist Industrial Ethernet nach wie vor das Rückgrat vieler Produktionslinien.

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Martin Jetter, Gründer und ehemals Vorstand der Jetter AG, blickt im Interview zurück und nach vorn.

Markt&Technik: Was waren aus Ihrer Sicht die Gründe und der konkrete Anlass dafür, Industrial Ethernet als Nachfolger der klassischen Feldbusse zu propagieren?

Martin Jetter: Eigentlich hatten wir zunächst keine Ambitionen, einen Nachfolger für die Feldbusse zu propagieren. Die übergeordnete Vision war: Wir wollten mit »JetWeb« der zunehmenden Komplexität großer Anlagen begegnen. Eine Anlage mit vielen Einzelsteuerungen (horizontale Vernetzung) und übergeordneten Ebenen bis hin zur Leitebene (vertikale Vernetzung) enthält eine Vielzahl von unterschiedlichen Daten- und Signalschnittstellen, die wir abbauen wollten. Der Zugriff auf Daten und Funktionen in diesem Netzwerk sollte so einfach wie ein lokaler Zugriff sein. Die Idee war also: »verteilte Intelligenz« mit kompletter Durchgängigkeit. Der Slogan dazu war: »Das Netz ist die Steuerung«.

Bei der Analyse der existierenden Netzwerktechnologien wurde schnell klar, dass für diese Vision, die übrigens innerhalb der Jetter-Welt weitgehend umgesetzt wurde, nur Ethernet infrage kam. Auf der Leitebene war Ethernet längst etabliert, nicht aber auf der Feldebene, weil die Echtzeitfähigkeit fehlte, die wir dann entwickelten.

Jetter Martin
Martin Jetter, Jetter AG: »Bei der Analyse der existierenden Netzwerktechnologien wurde schnell klar, dass für unsere Vision nur Ethernet infrage kam.«
© Jetter

Welche Rolle spielte dabei der Feldbuskrieg?

Schon am Anfang war uns klar, dass wir mit Ethernet eine Netzwerktechnologie gewählt hatten, die das Potenzial hatte, die Feldbusse zu ersetzen. Dieser Aspekt von JetWeb war ursprünglich nicht der Hauptantrieb, rückte dann aber schnell ins Zentrum der öffentlichen Diskussion. Ethernet ist eine Technologie, die zu der Zeit in anderen Bereichen bereits etabliert war und sich nun auf den Weg machte, die Feldbusse abzulösen.

Welche Vorteile sahen Sie seinerzeit darin, auf Industrial Ethernet anstelle der klassischen Feldbusse zu setzen?

Als großen Vorteil sahen wir zum einen die Durchgängigkeit von der Leitebene bis zur Feldebene oder sogar bis zur Sensor-Aktor-Ebene, aber auch die Möglichkeit, von proprietären und somit untereinander inkompatiblen und geschlossenen Lösungen wegzukommen. Und weil unsere Hauptmotivation die Datendurchgängigkeit war, sahen wir auch gar keine Alternative zum Ethernet, sobald die Echtzeitfähigkeit erreicht war. Die Vision war also eine wirklich offene Steuerungswelt mit Ethernet als Backbone. Deshalb war es uns auch wichtig, die Echtzeitfähigkeit so zu entwickeln, dass der eigentliche Ethernet-Standard nicht »verbogen« wurde. Die Echtzeitfähigkeit sollte nicht mit anderen Ethernet-Protokollen »kollidieren«, was mit JetWeb auch erreicht wurde.

Wie waren damals die Reaktionen auf Ihren Anstoß für Industrial Ethernet?

Die Fachwelt zeigte großes Interesse. Ich wurde auf viele Podiumsdiskussionen mit Spitzenvertretern der Marktführer eingeladen. Ihre erste Reaktion war Abwehr (»wir haben Ethernet schon in den 80ern getestet, es taugt nicht zur Automatisierung«). Weil aber das Interesse so nicht zu stoppen war, sprangen sie recht schnell auf den Zug auf. Siemens mit Profinet, Beckhoff mit EtherCAT, B&R mit Powerlink, Rockwell mit EtherNet/IP und noch einige mehr.

JetWeb hat zweifellos als »Brandbeschleuniger« für die Einführung von Ethernet gewirkt. Allerdings waren diese Lösungen nach wie vor proprietär. Die angestrebte Offenheit wurde somit zumindest auf der Feldbusebene nicht erreicht.

Wie entwickelte sich das Thema Industrial Ethernet in der Industrie weiter? Welche Rolle spielte dabei die Jetter AG?

Die bereits erwähnten Bussysteme auf Ethernet-Basis sind auf der Feldebene nicht offen im Sinne von austauschbar. Sie nutzen weitgehend die Physik von Ethernet, haben aber teilweise eigene Zugriffsverfahren und keine kompatiblen Protokolle. Der Feldbuskrieg ging somit auf neuer Ebene weiter. Die großen Marktführer wollten und konnten so weiterhin ihren Markt schützen. Die Jetter AG ist folglich mit dem Anspruch gescheitert, einen wirklich offenen und durch alle Ebenen durchgängigen Standard in der Automatisierungswelt zu etablieren. Innerhalb der Jetter-Welt wurde dies zwar erfolgreich realisiert. Allerdings war auch Jetter gezwungen, aufgrund der Marktsituation andere Standards wie etwa EtherCAT in die Jetter-Welt einzuführen.

Wie sehen Sie Gegenwart und Zukunft von Industrial Ethernet in Zeiten von Industrie 4.0 und IIoT?

Industrie 4.0 beschreibt das Konzept, das bereits mit JetWeb formuliert und entwickelt wurde: eine vertikale und horizontale Informations-Durchgängigkeit über große und verteilte Anlagen hinweg. Insofern ist es aus meiner Sicht nur die späte Namensgebung für eine Entwicklung, die längst in vollem Gange war. Es zeigt aber – und IoT verstärkt das natürlich –, dass das Thema verteilte Intelligenz und die damit verbundenen Schnittstellen zur zentralen Herausforderung wird. Ethernet ist dabei eine Schlüsseltechnologie. Allerdings wird diese nahtlose Durchgängigkeit, wie wir sie erträumt hatten, vorläufig ein Traum bleiben. Die Entwicklung geht jetzt vor allem in Richtung offene Schnittstellen, etwa OPC UA und die einheitliche Echtzeitimplementierung auf Basis von TSN.


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