Dr. Andreas Gontermann, Chefvolkswirt ZVEI
Mit 9,8 Milliarden Euro war Großbritannien 2019 der achtgrößte Exportabnehmer der deutschen Elektroindustrie. Dem stand ein Importvolumen an elektrotechnischen und elektronischen Erzeugnissen von 4,2 Milliarden Euro gegenüber. Zwischen Januar und November 2020 sind die deutschen Elektrolieferungen nach Großbritannien bislang um 13 Prozent gesunken. Zwar ist dieser Einbruch nicht zuletzt der Corona-Pandemie geschuldet, allerdings hat hier auch die Unsicherheit über den Ausgang der Brexit-Verhandlungen eine Rolle gespielt, denn die gesamten Branchenausfuhren sind im gleichen Zeitraum nur halb so stark gefallen.
In den Jahren 2013 bis 2017 stiegen die deutschen Lieferungen nach Großbritannien von Jahr zu Jahr zwischen drei und zehn Prozent an, und das Königreich lag im Exportabnehmer-Ranking der deutschen Elektroindustrie noch durchgängig an Nummer vier. Mit dem Näherrücken des Brexits gingen auch die inländischen Ausfuhren mit minus 2,8 Prozent 2018 und minus 10,9 Prozent 2019 immer stärker zurück. Bis Ende 2020 ist das Land weiter auf Position neun abgefallen. Auf der Einfuhrseite kam es im vergangenen Jahr erstmals zu einem kräftigen Rückgang, der sich zwischen Januar und November 2020 auf minus 14,5 Prozent belief. Auch hier spielte – neben dem Brexit ‒ die Corona-Pandemie eine nicht geringe Rolle.
Der starke Anstieg der deutschen Elektroexporte nach Großbritannien im November 2020 um 15,5 Prozent und die vergleichsweise nur sehr geringe Abnahme der Importe um 2,0 Prozent lassen auf ein eventuelles Auffüllen von Lagern auf beiden Seiten des Kanals vor der endgültigen Wiedereinführung der Grenzkontrollen bzw. -formalitäten schließen.
Der Begriff Freihandelsabkommen suggeriert, dass der Handel frei wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Handel ist nur frei von Zollzahlungen, sofern der britische bzw. EU-Ursprung einer Ware nachgewiesen wird. Dies erfordert jedoch eine verhältnismäßig bürokratische Ursprungskalkulation, die kleinen und mittleren Unternehmen oft unbekannt ist. Zudem wurden die entsprechenden Regeln erst wenige Arbeitstage vor dem Ende der Übergangsphase veröffentlicht, so dass ihre Umsetzung nicht rechtzeitig möglich war. Für Handelsware aus Drittländern, wie z.B. China, oder Waren, die nicht gemäß den Ursprungsregeln ausreichend be- oder verarbeitet wurden, besteht keine Zollfreiheit.
Der Handel ist auch nicht frei von Zollformalitäten, denn die „ganz normale“ Zollbürokratie setzt in vollem Umfang ein. Es müssen elektronische Import- und Exporterklärungen abgegeben werden. Die britische Zollverwaltung geht hier von 200 Millionen Erklärungen pro Jahr aus. Auf britischer Seite sind zudem viele unerfahrene Zöllner im Einsatz, zusätzliche Zollbroker und fachkundige Zollmitarbeiter in den Firmen sind quasi nicht verfügbar.
Ein spezielles Problem stellt das Fehlen ausreichender Bankbürgschaften von britischen Spediteuren für die Durchleitung von unverzollten Waren zwischen dem EU-Festland und Irland auf der bisher üblichen Landroute Dover (Kent) - Holyhead (Wales) dar. Die Firmen weichen deshalb auf den Luftweg und neu geschaffene direkte Seerouten zwischen Irland und dem EU-Festland aus.
Die Mitgliedsfirmen des ZVEI waren gut vorbereitet auf den Brexit und haben deshalb außer anfänglichen Schwierigkeiten mit der unterschiedlichen Behandlung von Nordirland, welches weiterhin Teil des EU-Binnenmarkts ist und England, Schottland, Wales als Drittländer auf der anderen Seite in ihren jeweiligen IT-Systemen bislang keine Probleme gehabt.
Physische Zollkontrollen auf britischer Seite wird es außerdem erst ab 1. Juli dieses Jahres geben, da die Briten einseitig eine weitere 6-monatige Übergangsfrist in Kraft gesetzt haben.
Bereits im Vorfeld haben die Firmen mit verstärkter Lagerhaltung und Erhöhung der Just-in-Time-Vorlaufzeiten – zum Beispiel bei den meisten Automobilzulieferungen von vier Stunden auf zwei Tage – reagiert. Lagerhaltung, Bürokratie und verringerte zeitliche Liefergenauigkeit werden sich in den kommenden Monaten in steigenden Kosten niederschlagen und eventuell einige Liefermodelle wettbewerbsunfähig machen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation an den Grenzen ab Juli gestalten wird. In der zweiten Jahreshälfte werden wir hier ein besseres Bild haben. Derzeit mischen sich noch Corona-bedingte Personalausfälle sowie fehlende Routine aller Beteiligten unter die normalen Zollabwicklungsprobleme.
Ein negativer Aspekt, der die derzeitigen Schwierigkeiten noch verstärken könnte, ist der Wunsch der Briten, von den gemeinsamen europäischen Standards und Normen sowie den Umwelt-, Sozial- und Subventionsregeln abzuweichen. Hieraus könnten sich im Verlauf der nächsten Monate und Jahre weitere Unwägbarkeiten und zusätzliche nicht-tarifäre Handelshemmnisse, bis hin zu wechselseitigen Antidumpingmaßnahmen und -zöllen, ergeben.