Auswirkungen der EN 60601-1 3rd Edition

Normierter Strom und Schall

21. November 2012, 9:23 Uhr | von Victor Ienea
© M+R Multitronik

Die Sicherheitsnorm EN60601-1 für Medizinprodukte wurde erstmals 1977 veröffentlicht und ist seitdem in Umfang und Anforderung kontinuierlich erweitert worden. Die »3rd Edition« wurde vom IEC bereits 2005 veröffentlicht und dann 2006 auch von der EU übernommen. Seit Juni 2012 ist die EN 60601-1 3rd Edition die gesetzliche Grundlage für alle Medizinprodukte. Welchen Einfluss hat sie auf Stromversorgungen und piezokeramische Lautsprecher?

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Die Philosophie, die sich hinter der 3rd Edition verbirgt, ist direkt verwandt mit der ISO 14971 (Anwendung des Risikomanagements auf Medizinprodukte).

Die bedeutsamsten Änderungen von der 2nd auf die 3rd Edition sind:

  • Einführung der Dokumentation zum Risikomanagement (Risk Management File, RMF). Das Testergebnis (Pass/Fail) kann somit abhängig vom RMF sein. Der Hersteller von Medizinprodukten muss deshalb die jeweiligen Risikograde und Restrisiken begründen.
  • Einführung der wesentlichen Eigenschaften (Essential Performance, EP). Die Norm besagt: »EP bedeutet vereinfacht die Berücksichtigung, ob fehlende oder abwertende Eigenschaften ein nicht zu akzeptierendes Risiko darstellen würden«. Ziel der Produktperformance ist es also, nicht akzeptable Risiken vollständig auszuschließen. Der Hersteller hat also die wesentlichen Eigenschaften zu definieren und diese in das Risikomanagement einzubinden.

Auf Grundlage der 2nd Edition testete eine Zertifizierungsstelle lediglich nach Pass/Fail-Kriterien, was aber eher einer Schwarz/Weiß-Betrachtung entsprach. Die gleichen Pass/Fail-Kriterien existieren auch in der 3rd Edition, allerdings ist es nun zusätzlich erforderlich, das Risikomanagement zu integrieren. Der Risikomanagementprozess muss die Gesamtlebensdauer des Produktes beinhalten und nicht nur das Design.

Heute muss nun also zusätzlich zum Produkt auch das RMF der Zertifizierungsstelle vorgelegt werden. Das RMF stellt somit einen wichtigen Bestandteil für die CE-Dokumentation dar und wird mit der Einführung der 3rd Edition zu einem Schlüsseldokument.

»Reine« Sicherheit
Aber kritisch in ...
geräuscharm
Baby-Inkubator, Audiometer
hochauflösend augenärztliches Gerät
schnell betriebsbereit
Notbeatmungsgerät, Krankentrage

Tabelle 1: Beispiele für »Essential Performance«


Tabelle 1 zeigt einige Beispiele für EP (Essential Performance). Folglich ist eine Zertifizierung nach EN 60601-1 nicht ohne Erfüllung der ISO 14971 möglich. Eine Bewertung des RMF kann nicht durch ein ISO-14971-Audit ersetzt werden, da ein Audit prozessbezogen ist, wohingegen sich die Bewertung von relevanten Gefahren im RMF stets auf ein konkretes Produkt bezieht.

Es gibt ferner viele weitere Änderungen und ergänzende Informationen, welche die 3rd Edition sehr aufbauschen - dokumentiert auf über 100 Seiten. Neben oben aufgeführten wichtigen Änderungen gibt es zahlreiche Dinge in verschiedenen Absätzen, die neue Tests und/oder Begrenzungen betreffen: mechanische Sicherheit (akzeptable Lücken, dehnbare Sicherheitsfaktoren, Geräusche und Vibration, mechanische Belastbarkeit), thermische Sicherheit und Brandschutz (Entflammbarkeit), elektrische Sicherheit (MOOP, MOPP, Isolation und Durchschlagsfestigkeit, Kriech- und Luftstrecken).

Als Hersteller und Distributor von Stromversorgungen und piezokeramischen Lautsprechern gilt das größte Interesse im Hause M+R Multitronik den Änderungen bezüglich der elektrischen Sicherheitsanforderungen bei diesen beiden Produktgruppen.

Auswirkungen auf Stromversorgungen

Bild 1: 75-W-Netzteil »RPS-75-24« von Mean Well, das für medizinische Anwendungen geeignet ist
Bild 1: 75-W-Netzteil »RPS-75-24« von Mean Well, das für medizinische Anwendungen geeignet ist
© Mean Well

Die Norm berücksichtigt drei defensive Ansätze, die in verschiedenen Kombinationen angewendet werden können - Sicherheitsisolation, Schutzerde und Impedanzschutz. Die 3rd Edition fordert die Implementierung von zwei Schutzmaßnahmen (Means of Protection - MOP), sodass, sollte in einem Bereich ein Fehler auftreten, ein sekundärer Mechanismus den Bediener und/oder Patienten gegen jegliche Gefahr von elektrischem Schlag schützt (Bild 1).

In der 2nd Edition gab es die MOP in ähnlicher Form, nämlich für den Bediener (Gesundheit) und (potenziell schwachen) Patienten. In der 3rd Edition ist MOOP (Means of Operator Protection - Bedienerschutz) weniger scharf als MOPP (Means of Patient Protection - Patientenschutz). MOOP basiert auf der Industrienorm IEC 60950-1 und gestattet die Verwendung von kostengünstigen Komponenten.

Aber egal ob MOOP oder MOPP - die Norm fordert in beiden Fällen die Einhaltung von maximalen Ableitströmen. Die Entscheidung, ob nun eine Stromversorgung nach MOOP oder MOPP entwickelt wird, obliegt dem Hersteller und wird entscheidenden Einfluss auf das RMF nehmen. Entscheidet sich nun ein Entwickler eines Medizinproduktes aus Kostengründen für den Einsatz einer Stromversorgung mit MOOP, so muss er eine zusätzliche Isolationsschutzmaßnahme ergreifen, um bei direktem Patientenkontakt, diesen im Fehlerfall besonders zu schützen.

Dieses wiederum erschwert und verteuert das Produktdesign, selbst wenn eine preisgünstigere MOOP- statt MOPP-Stromversorgung zum Einsatz kommt. Aus diesem Grund sind alle Stromversorgungen von M+R Multitronik nach MOPP entwickelt, denn Qualität und Bediener- wie auch Patientenschutz gehen vor Kosteneinsparung. Der Patientenkontakt splittet sich in zwei Typen auf:

  • am Patienten anliegende Teile, die den Patienten mit dem Gerät verbinden müssen, um bestimmungsgemäß zu arbeiten, und
  • Teile, die keinen Patientenkontakt im Gebrauch erfordern, ein Kontakt aber während des Gebrauchs möglich ist.

Die Entscheidung, in welche Kategorie Teile des medizinischen Equipments fallen liegt ausschließlich beim Hersteller des Gerätes.

Auswirkungen auf piezokeramische Signalgeber

Bild 2: Schallgeber wie die von Sonitron dürfen 85 dB(A) für einen anhaltenden Alarm und 140 dB(A) für einen pulsierenden Alarm nicht überschreiten
Bild 2: Schallgeber wie die von Sonitron dürfen 85 dB(A) für einen anhaltenden Alarm und 140 dB(A) für einen pulsierenden Alarm nicht überschreiten
© Sonitron

Schallgeber müssen selbst zwar keiner Zertifizierung unterzogen werden. Dennoch ist es im Endprodukt, das einen Alarm geben soll, von großer Bedeutung, nicht am falschen Ende zu sparen und ein Qualitätsprodukt wie zum Beispiel von Sonitron (Vertrieb: M+R Multitronik) einzusetzen (Bild 2). Die Weiterentwicklung der IEC 60601-1 wurde von wenigstens zwei weiteren Sicherheitsnormen unterstützt, bedingt durch einzelne Standards für Alarme für medizinisches Equipment: Die IEC 60601-1-8 wurde 2003 veröffentlicht zur Anwendung zusammen mit der dann gültigen Version der IEC 60601-1.

Obwohl die IEC 60601-1-8 keine starren Anforderungen für Alarme stellt, wurden jedoch Basisgruppierungen von Alarmtypen eingeführt (hohe, mittlere und niedrige Priorität), welche die jeweiligen Basiseigenschaften beschreiben. Alarme sind zwar von der Begrenzung von Lärmpegeln befreit, jedoch müssen sie den Anforderungen der Sicherheitsnorm für Alarme in der IEC 60601-1-8 entsprechen.

Absatz 9 der dritten Edition stellt Anforderungen an den Lärmpegel (bezogen auf Operationen). So darf ein anhaltender Alarm 85 dB(A) und ein pulsierender Alarm 140 dB(A) nicht überschreiten. Darüber hinaus gibt es je nach Alarmtyp zwischen anhaltend und pulsierend noch weitere Feinabstufungen des Schalldruckpegels. Die Hauptanforderung der IEC 60601-1-8 zur Akustik ist, dass der individuelle Ton eine Basisfrequenz von 150 Hz bis 1000 Hz haben muss, während die Obertöne zwischen 300 Hz und 4000 Hz liegen dürfen.

Eine abschließende Anforderung an die Klangwiedergabekurve ist, dass der Schalldruckpegel (gemessen in dB) von vier Obertönen in einem Bereich von ±15 dB der Basistonfrequenz liegen muss. Die piezokeramischen Lautsprecher von Sonitron können solch einen gleichmäßigen Alarm erzeugen, da sie eine sehr flache Wiedergabekurve haben, die bereits bei ±400 Hz beginnt.

Das Signal hat eine Rechteckwelle (Arbeitszyklus 50 Hz bis 60 Hz) mit einer Hauptfrequenz, die geringfügig über der Mindestfrequenz der Lautsprecher liegt. Die Amplitude der Rechteckwelle wird genutzt, um die Lautstärke des Alarmtons zu variieren. Falls erforderlich lässt sich die Amplitude der Rechteckwelle durch einen Piezo-Audioverstärker noch anheben, um eine höhere Lautstärke zu erreichen. Die piezoelektrischen Lautsprecher von Sonitron arbeiten mit einer Sinuswelle von mit einer Amplitude von 60 V (21,21 V Effektivwert; 42 V Rechteckwelle).

Testkosten senken

Die Ergänzung A1 der IEC 60601-1:2005 wurde bereits verabschiedet, aber bislang noch nicht veröffentlicht. Die A1 beinhaltet weitere 182 Punkte und 496 Änderungen zur 3rd Edition. Allein im Entwurf des technischen Berichtes sind 83 Änderungen moderater und signifikanter Einflüsse für den Anwender des Standards enthalten. Elektronische Medizingeräte (MEE) und Elektronische Medizinsysteme (MES), die der 3rd Edition und A1 entsprechen sollen, müssen dann nochmals nach der 3rd Edition und der A1 getestet werden.

Die Testkosten der 3rd Edition sind im Verhältnis zur 2nd Edition um etwa 70 Prozent gestiegen. Viele Akkreditierungsbüros bieten einen sogenannten »Delta«-Test an: Punkte der 2nd Edition, die bereits geprüft wurden, werden beim Upgrade auf die 3rd Edition nicht erneut geprüft, sondern nur die zusätzlichen Anforderungen. Dieses kann die Kosten und die Testzeit für das Normen-Upgrade zumindest etwas reduzieren. Um die Kosten für ein Normen-Upgrade so gering wie möglich zu halten, sollte ein Hersteller folgende Dinge erledigen bevor er das Produkt der zertifizierenden Stelle übergibt:

  • Erstellung eines Isolations-Diagramms,
  • Einsatz von zertifizierten Hauptkomponenten,
  • Aufbereitung aller begleitenden Dokumentationen, die für eine Zertifizierung erforderlich sind,
  • Bereitstellung vorhergehender Testreports (Vorgängermodel), falls anwendbar, und
  • Aufbereitung eines relevanten RMF.

Gegebenenfalls kann die Zertifizierungsstelle eine Checkliste mit allen Elementen, die in der 3rd Edition gefordert werden, zur Verfügung stellen.

Über den Autor:

Victor Ienea verantwortet die Technische Unterstützung bei M+R Multitronik.


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