Welches Obsoleszenz-Risiko schätzen Sie in seinen finanziellen Auswirkungen höher ein – die Abkündigung einzelner Schlüsselkomponenten oder die zeitweise komplette Unterbrechung internationaler Lieferketten wie in den ersten Wochen und Monaten der Corona-Pandemie?
Wenn ein Automobilhersteller ein halbes Jahr lang keine Fahrzeuge ausliefern kann, weil dessen Lieferanten ihre für die Produktion dringend benötigten Komponenten nicht rechtzeitig anliefern können, ist das der Obsoleszenz-Supergau. Natürlich ist der finanzielle Schaden hier ein Zigfaches höher als bei einem wegen eines abgekündigten Bausteines notwendigen Redesign einer einzelnen Steuereinheit. Deshalb wird in vielen Unternehmen derzeit über die Sicherheit der bestehenden Lieferketten diskutiert; übrigens nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen geopolitischer Unwägbarkeiten wie dem Handelskrieg zwischen China und den USA und dem Brexit. So suchen derzeit offensichtlich viele Firmen prophylaktisch nach Mitteln und Wegen, wie sie Warenlieferungen aus oder über UK reduzieren können. Denn sollte es tatsächlich zu einem ungeordneten Austritt kommen, könnte das auf unabsehbare Zeit desaströse Folgen haben.
Aber auch der nur ein einzelnes Schlüsselbauteil betreffende Obsoleszenz-Fall kann massive finanzielle Auswirkungen haben, vor allem, wenn er zu Regressforderungen führt. Und er tritt viel häufiger auf als eine Pandemie, ein Vulkanausbruch oder andere Naturkatastrophen, die internationale Logistikketten beeinträchtigen. Wichtig ist, dass man schon in der Evaluierungsphase immer die gesamte Supply Chain betrachtet, schaut, an welcher Stelle welche Obsoleszenz-Risiken bestehen, und diese dann soweit möglich schon im Vorfeld eliminiert oder zumindest minimiert.
REACH, die europäische Verordnung für die Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien, zählt inzwischen über 200 als besonders besorgniserregend eingestufte Stoffe und Materialien auf. Herrscht inzwischen mehr Klarheit als früher darüber, was gegenüber der ECHA deklariert werden muss? Welche Auswirkungen könnte das auf die Obsoleszenz haben?
Informationen darüber, was an die Europäische Chemikalienagentur ECHA gemeldet werden muss, gibt es genügend. Kritischer sehe ich die kommende EU-Abfallverordnung. Sie sieht ab Januar 2021 vor, dass jeder Hersteller alle Komponenten – auch die zugekauften Produkte – mit kritischen Inhaltsstoffen explizit aufführt und in die SCIP-Datenbank der ECHA einträgt. Das ist enorm aufwändig und stellt eine große Herausforderung für das Konfigurations- und Datenmanagement dar. Sofortige Sanktionen sind zwar nicht zu befürchten, weil die EU-Abfallverordnung voraussichtlich erst im Oktober in deutsches Recht überführt wird. Aber ich gehe davon aus, dass wegen der Verordnung manche REACH-kritische Komponenten trotzdem relativ zügig gegen unkritische ausgetauscht werden.
Wie kann man sicherstellen, dass die einzelnen Bauteile und Komponenten wirklich konform sind?
Bei einzelnen Bauteilen und Komponenten kann man entsprechende Materialuntersuchungen durchführen oder in speziellen Laboren durchführen lassen. Bei komplexen Produkten hingegen muss man den Aussagen der Lieferanten vertrauen und sicherstellen, dass sie die nötigen Informationen für ihre Produkte schriftlich zur Verfügung stellen.
Wer an Obsoleszenz denkt, denkt meist an Hardware. Wie stellt sich das Problem für Software dar, etwa RTOS?
Solange man an der Software nichts ändern muss und/oder seitens des Herstellers der nötige Support für eventuell anstehende Änderungen zur Verfügung gestellt wird, würde ich das Obsoleszenz-Risiko bezüglich der verwendeten Software zumindest im industriellen Bereich als sehr gering einschätzen. Außerdem besteht inzwischen ja in vielen Fällen die Option, im Zweifelsfall auf Open Source-Produkte zurückzugreifen.
Im Consumer-Bereich sieht es leider etwas anders aus. Bei Smartphones, Tablets etc. scheint es inzwischen schon fast normal, dass Hersteller für die verwendeten Betriebssysteme nach zwei, drei Jahren keine Sicherheits-Updates mehr anbieten. Gleiches gilt für neue Apps, die immer öfter ganz bewusst keine älteren Geräte und Standard unterstützen. Hier reden wir allerdings eher von geplanter Obsoleszenz, denn über diese Funktionseinschränkung sind Besitzer eines hardwareseitig einwandfrei funktionierenden Geräte faktisch zum Kauf eines neuen Gerätes gezwungen. Diese zumindest aus Verbrauchersicht etwas fragwürdige Praxis scheint auch dem EU-Parlament und dem Umweltbundesamt nicht entgangen zu sein. Zumindest will man dieses heikle Thema dort weiter untersuchen.