»Corona hat bewusst gemacht, wie anfällig vermeintlich sichere Lieferketten sind«, erklärt Dr. Wolfgang Heinbach, Vorstandsvorsitzender des Industrieverbandes COGD (Component Obsolescence Group Deutschland). Im Interview mit Markt&Technik erklärt er, welche weiteren Auswirkungen zu erwarten sind.
Markt&Technik: Der COGD zufolge hat die Zahl der schon nach kurzer Zeit wieder abgekündigten oder aus anderen Gründen nicht mehr verfügbaren elektronischen Einzelbauteile, Systemkomponenten und Softwareprogramme in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen. Welchen Einfluss wird die derzeitige Pandemie Ihrer Meinung nach auf diesen Trend haben?
Dr. Wolfgang Heinbach: Ich glaube zwar nicht, dass die Hersteller wichtiger Schlüsselkomponenten wegen Covid-19 gleich ihre kompletten Produktstrategien überdenken werden. Aber vielen Industrieunternehmen ist durch Corona erstmals so richtig bewusst geworden, wie anfällig ihre vermeintlich sicheren Lieferketten in Zeiten von Just-in-Time und immer stärkerer Globalisierung in Wirklichkeit eigentlich sind. Es sind ja nicht nur unvorhersehbare kurzfristige Produktabkündigung oder fehlende Software Updates, die in der Fertigung oder in der Instandhaltung zu massiven Problemen führen können. Obsoleszenzen können auch durch Naturkatastrophen, Handelsrestriktionen, Firmenübernahmen oder -pleiten und viele andere, von einem Unternehmen kaum oder gar nicht beinflussbaren Faktoren entstehen. Sich vor den möglichen negativen Folgen all dieser Unwägbarkeiten hundertprozentig zu schützen ist kaum möglich. Inwieweit ein Unternehmen auf unterschiedliche Szenarien vorbereitet ist und mit welchen Konsequenzen zu rechnen, sollte aber zumindest bekannt sein. Ich bin überzeugt, dass durch Corona Themen wie Risk- und Obsoleszenzmanagement in vielen Unternehmen weitaus stärker als bisher in den Fokus rücken werden. Das wäre ein großer wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Könnte eine Deglobalisierung der Lieferketten das Problem entschärfen?
In Einzelfällen ja. Es gibt ja auch heute schon immer wieder mal Fertigungsrückverlagerungen, und das nicht nur aus Qualitäts-, sondern beispielsweise auch Infrastrukturgründen. Aber in High-Tech-Bereichen wie der Halbleiterfertigung ist der Zug für uns Europäer längst abgefahren. Dass einer der großen Hersteller viele Milliarden in eine neue Fertigung in Europa investiert, kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Im Gegenteil: Immer mehr Chip-Hersteller überlassen inzwischen aufgrund der in den letzten 20 Jahren geradezu explodierten Investitionskosten für neue Halbleiterfabriken die Fertigung Spezialisten wie TSMC. Angesichts der Tatsache, dass die Bedeutung des europäischen Halbleitermarktes gegenüber dem asiatischen und dem amerikanischen Markt seit Jahren rückläufig ist, werden durch diese Bündelung die Abhängigkeit und damit auch die Versorgungsrisiken eher noch zunehmen.
Viele in der Elektronik-Industrie fusionieren derzeit, vor allem aus Kostengründen. Können Sie sich vorstellen, dass wegen Corona tatsächlich ein Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit und zu längeren Produktzyklen stattfinden könnte?
Es gibt zwar tatsächlich einzelne Fälle, in denen Hersteller aktuell ihre Abkündigungen zurückgenommen haben. In den meisten Bereichen wird das aber nicht geschehen. Tendenziell beobachten wir bei der COGD eher das Gegenteil. Früher gab es beispielsweise für fast jeden Mikrocontroller zumindest einen weiteren, weitgehend kompatiblen Ersatzbaustein eines anderen, oftmals sogar noch europäischen Herstellers. In Zeiten von System-on-Chip ist von diesem bewährten Second-Source-Prinzip allerdings nicht mehr viel übrig geblieben. Deshalb gilt es heutzutage mehr denn je, bei jedem größeren Projekt immer wieder aufs Neue sorgfältig abzuwägen, welche Risiken durch den Einsatz bestimmter Schlüsselkomponenten entstehen könnten, wie viel Risiko man für wie viel Innovation zu tragen bereit ist. Schon heute werden im Bereich besonders langlebiger Wirtschaftsgüter wie Industrieanlagen, medizintechnische Großgeräte und Bahntechnik bis zu 50 Prozent der gesamten Lebenszykluskosten direkt oder indirekt durch Obsoleszenz verursacht, und so wie es derzeit aussieht, wird sich dieser Trend wohl leider eher noch verstärken.
Kann man die Kosten für Obsoleszenz je nach Einsatzfall ungefähr angeben?
Das wurde schon mehrfach versucht, lässt sich aber allgemein nur schwer darstellen. Ich würde sagen, bei Vorhandensein eines Second-Source-Bausteines bewegen wir uns im Einzelfall im niedrigen Tausenderbereich. Ist ein komplettes Redesign nötig, reden wir zumeist schon von Summen größer 50.000, wenn komplette Neuqualifizierung zum Beispiel im Medizin- oder MIL-Bereich, kann der Betrag auch schnell im deutlich sechsstelligen Bereich liegen. Das größte Problem hierbei ist, dass der Einzelfall in Wirklichkeit ja kein Einzelfall ist. Ich kenne Fälle, in denen eine Obsoleszenz mehrere tausend Produkte betrifft.