Welche Herausforderungen gibt es aus Ihrer Sicht – über Lieferknappheit, Preissteigerungen hinaus – für dieses Jahr?
Es wird ein spannendes Jahr! Auch die Pandemie wird uns meines Erachtens noch nicht verlassen, auch wenn sich die Situation weiter normalisieren wird. Wir werden in der Lieferkette immer wieder Auswirkungen von Corona haben, je nachdem welche Maßnahmen Regierungen – vor allem in Asien – ergreifen.
Auch politisch wird es ein spannendes Jahr. Schließlich ist der Konflikt zwischen China und USA noch nicht wirklich gelöst, und wir haben die Unruhen zwischen Ukraine und Russland, was eine gewisse Unsicherheit kreiert.
Die Inflation wird mittelbaren Einfluss haben für Firmen, die die Preissteigerungen nicht weitergeben können. Das wird durchaus schwierig. Bislang haben wir glücklicherweise nur wenige Fälle gesehen, wo Firmen insolvent gegangen sind, deutlich weniger als wir erwartet hätten.
In Summe sehen wir aber, dass es eine sehr kritische Situation ist. Es hängt davon ab, was man am Ende des Tages liefern kann. Wir haben Firmen, die werden ein bis zwei Quartale bestimmte Produkte nicht bekommen, und wenn da ein, zwei große Produktlinien dahinter hängen, dann, ist meine Befürchtung, könnte solchen Firmen irgendwann die Luft ausgehen. Auf der anderen Seite sehen wir, dass viele Firmen sehr viel Kapital in den Lägern gebunden haben, etwa die Auftragsfertiger, die drei bis fünf Mal so viel Lagerbestand haben wie normal.
Supply-Chain-Experten sind der Ansicht, dass es auch daran hakt, dass die Lieferketten viel zu wenig digitalisiert sind. Zwar gibt es Insellösungen, aber das Big Picture fehlt. Was kann ein Distributor konkret zur Digitalisierung der Lieferkette beitragen?
Da stimme ich Ihnen zu, das Ganze ist zu wenig digitalisiert: angefangen bei den Herstellern über die Forwarder, also Spediteure, bis hin zur Distribution. Wenn man die Daten nicht verfügbar hat, tut man sich schwer, dem Kunden die Transparenz zu geben.
Wir haben begonnen, das Thema mit einem Partner zu adressieren, sodass wir die Daten der Hersteller und Forwarder bekommen und sukzessive diesen Teil des Inbound Traffics transparent machen können. Wobei diese Lösung alles andere als trivial ist. Schließlich müssen wir 120 bis 130 Hersteller und 10 Speditions-Unternehmen mit einbeziehen.
Was ich allerdings noch nicht sehe, ist eine industrieübergreifende Lösung, etwa in Gestalt einer Blockchain-Lösung. Ich bin gespannt, wie sich das Thema Blockchain in dieser Hinsicht entwickeln wird. Es gibt zwar schon Ansätze, aber keine größere Initiative, die das treibt. Für eine komplexe Lieferkette würde die Blockchain durchaus Sinn machen. Aber natürlich ist dazu eine Infrastruktur und Erfahrung notwendig. Schlussendlich können wir darauf nicht warten, wir brauchen jetzt eine Lösung.
In unserem Interview vor einem Jahr haben Sie betont, Sie bzw. EBV wollen Advokat für die Kunden beim Hersteller sein. Wie gut ist das im vergangenen Jahr gelungen?
Es ging dabei um u. a. eine noch engere Zusammenarbeit mit den Herstellern.
Advokat zu sein hat aus meiner Sicht verschiedene Spielformen. Dadurch, dass wir nicht Hunderte von Linien haben, sondern mit circa 20 Hauptlinien arbeiten, können wir bei diesen Linien unseren Kunden auch in Allokations-Situationen besser helfen. Die Kunden geben uns jedenfalls das Feedback, dass wir hier einen sehr guten Job machen. Ich sehe unsere Rolle dahingehend, dass wir Kunden dabei helfen, dass sie ihre Wertschöpfungskette entsprechend erhalten können. Wenn es Firmen wie uns – sprich: die Distribution – nicht gäbe, hätten viele Kunden im letzten Jahr ein massives Problem gehabt.
Der zweite Punkt, den wir als Advokat leisten, ist die technische Unterstützung, weil die Kunden nicht überall und für alle Themen entsprechende Ressourcen vorhalten können.
Der dritte Punkt ist die Interaktion mit den Halbleiterherstellern. Wir treffen uns mit einigen Herstellern quartalsweise zu Meetings, wo wir unsere Inputs austauschen. Das ist ein kontinuierlicher Dialog. Ich kann das natürlich nicht über 40 Linien realisieren, aber für die wichtigen Themen können wir das leisten. Darüber hinaus organisieren wir zweimal im Jahr ein FAE-Training, wo wir die Hersteller und unsere technischen Spezialisten zusammenbringen.
Und (wie) beeinflusst die Pandemie nach wie vor die Kundenansprache? Werden Termine bevorzugt online abgewickelt? Und wird sich dadurch die Beratungsfunktion der Distribution dauerhaft verändern?
Die persönliche Interaktion wird sich verändern, aber nicht weniger werden. Ich würde sogar sagen, dass mehr Interaktion und Beratung in den letzten drei, vier Quartalen gefordert war.
Was sich verändert hat, ist, dass bei den Kunden ein Web Call eine andere Akzeptanz hat als früher. Auf der anderen Seite sind viele der Kunden Webinar-müde, weil sie, wenn, dann spezifisch auf sie zugeschnittene Inhalte möchten. Wenn man ein allgemeineres Webinar anbietet, muss es entweder Einblicke in den Markt geben oder technisch spezifisch sein.
Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die Kunden in vielen Fällen den persönlichen Kontakt vorziehen. Denn bei den informellen persönlichen Gesprächen in der Entwicklung spricht man durchaus auch über angrenzende Themen und neue Projekte, und das geht bei virtuellen Meetings natürlich verloren. Die Rolle des FAE verändert sich vielleicht dahingehend, dass er mehr und mehr die Aufgabe hat, wenn notwendig die richtigen Leute zusammenzubringen.
In welchen Produktbereichen sehen Sie noch Bedarf, die EBV-Linecard zu verstärken?
Durch die Veränderungen im Markt in den letzten Jahren haben wir nur begrenzten Zugang zu Analog-Technologie. Wir wollen aber gerade in diesem Produktbereich unsere Linecard erweitern. Das wird für die nächsten zwei Jahre von der Promotion bis zur Unterstützung ein großes Thema für uns werden. Speziell in Asien sehen wir sehr interessante Hersteller, die sowohl im High-Precision-Analog-Bereich als auch im Power-Segment ein sehr gutes Portfolio vorweisen und mit denen wir Kunden in Europa Alternativen zu sehr wettbewerbsfähigen Preisen bieten können. Derzeit sind wir mit drei Herstellern in Verhandlungen.
Nicht nur wenn es um Analogtechnik geht: Technische Ressourcen – sprich: Ingenieure – sind nach wie vor Mangelware auf dem Arbeitsmarkt. Welche Trümpfe hat EBV beim Recruiting von Mitarbeitern in petto?
Ein Zitat sagt: »Kunden können eine Firma nur dann mögen, wenn die Mitarbeiter die Firma zuerst mögen.« Das heißt, ich muss also dafür sorgen, dass ich eine motivierte Mannschaft habe, die die Firma nach außen vertritt.
Die geeigneten technischen Ressourcen zu finden wird für uns über die nächsten Jahre ein großes Thema, und wir werden dazu auch auf Avnet-Ebene den Schulterschluss suchen. Ich bin überzeugt davon, dass man die üblichen Denkmechanismen verlassen und sich gezielt umsehen muss, wo man im Idealfall Gruppen von Menschen findet, die das leisten können.
Was erwarten Sie auf Innovationsseite vom Markt in diesem Jahr?
Ich bin gespannt, wie sich die europäischen Automobilhersteller bei der Elektromobilität wirklich durchsetzen, denn da ist meines Erachtens schon was verpasst worden. Es bleibt abzuwarten, wie sich das aufholen lässt.
Innovation ist insgesamt durch diese Materialkrise nicht befördert worden, denn viele Kunden haben ihre Kapazitäten im Entwicklungsbereich auf Redesign to Availability konzentriert. Je nachdem, mit wem sie sprechen, sind das 10 bis 15 Prozent bis hin zu 50 Prozent. Das wird uns irgendwann an neuen Projekten fehlen. Das bedeutet, man hat de facto die gleiche Generation, nur mit neuen Bauteilen.
Auf der anderen Seite sind wir besser durch diese Krise gegangen, als wir das Mitte 2020 gedacht haben. Die Marktprojektionen für Elektronik sind immer noch sehr positiv.