Stromversorgungen für Medizingeräte

Alles neu?

30. Mai 2018, 11:15 Uhr | Karin Zühlke

Wer medizinische Geräte entwickelt, sollte sich genau mit der vierten Ausgabe der IEC 60601 auseinandersetzen. Sie hält einige Neuerungen für das Design von Stromversorgungen bereit.

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Regionen rund um den Globus sind derzeit damit beschäftigt, sich gemäß ihrem eigenen Rhythmus an die vierte Ausgabe der IEC 60601 anzupassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder auf den Wechsel angemessen vorbereitet ist«, gibt Philip Lechner zu bedenken, Produktmarketing Power von Avnet Abacus. Die US Food and Drug Administration (FDA) jedoch hat alle Konformitätserklärungen gemäß der dritten Ausgabe ab Anfang April dieses Jahres für unzulässig erklärt, wobei von den anderen Regionen erwartet wird, ihre eigenen Anpassungen zu beschleunigen. »Viele Hersteller werden der vierten Revision freiwillig folgen, um mit ihren Produkte die größtmögliche Anzahl an Kunden zu erreichen. Dazu müssen sie sich allerdings an dem Markt orientieren, der die aktuellen Regelungen am strengsten auslegt, und das sind derzeit die USA«, betont Lechner.

Besondere Beachtung in der Medizinitechnik gilt laut Auskunft von Lechner der elektromagnetischen Verträglichkeit (ESD), da es sehr gefährlich werden könnte, wenn die von einem Gerät ausgehenden Emissionen den Betrieb anderer stören würden. Es ist äußerst wichtig, zu gewährleisten, dass medizinische Geräte weder übermäßige Störungen erzeugen noch durch die Emissionen äußerer Quellen beeinträchtigt werden. Eine gemeinsame Konstante aller medizinischen Geräte ist der Energiebedarf. Die Entwickler elektrischer Medizingeräte orientieren sich dazu an den Vorschriften der IEC 60601, die seit ihrer Einführung 1977 als Standardnorm für medizinische Geräte gilt. In den vergangenen 40 Jahren wurde die Rechtsvorschrift vier Revisionen unterzogen.

Der anfängliche Zweck der IEC 60601 war es, die Sicherheit medizinischer Vorrichtungen, die im Fehlerfall keinen Stromschlag oder Kurzschluss auslösen dürfen, zu gewährleisten. »Spätere Überarbeitungen der Gesetzgebung richteten den Blick darauf, wie Fehler die „wesentliche Funktion“ des Produkts beeinflussen und welche Gefahren sich aus einer derartig beeinträchtigenden Leistung ergeben könnten«, so Lechner.

Avnet Abacus
Philip Lechner, Avnet Abacus »Regionen rund um den Globus sind derzeit damit beschäftigt, sich gemäß ihrem eigenen Rhythmus an die vierte Ausgabe der IEC 60601 anzupassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder auf den Wechsel angemessen vorbereitet ist.«
© Avnet Abacus

Die dritte Ausgabe der IEC 60601 brachte eine wesentliche Veränderung der Gesetzgebung mit sich. Die Norm trat in der EU am 1. Juni 2012 in Kraft, Kanada und die USA zogen entsprechend im April und im Juni 2013 nach. Sie verlangte vom Hersteller eines fertigen Medizinprodukts, eine formale Risikobewertung gemäß ISO 14971 vorzunehmen. Der Hersteller muss alle durch den Betrieb des Geräts möglicherweise auftretenden Gefahren aufzeigen, dann die Risiken abschätzen und im Detail Lösungen dazu ausführen, um das Risiko in allen Phasen des Gerätelebenszyklus zu bestimmen. »Das Risikomanagement der IEC 60601 dient dazu, die Sicherheit und die wesentliche Funktion des Geräts abzudecken, muss aber auch notwendigerweise alle Teilsysteme berücksichtigen, aus denen das Produkt besteht, also nicht nur das Endprodukt und dessen Verwendung. Zu diesen Teilsystemen gehört natürlich auch die Stromversorgung«, erklärt der Avnet-Abacus-Experte.

Die dritte Ausgabe der IEC 60601 umfasste ferner auch eine weitere wichtige Neuerung: die Definition eines elektrischen Kontakts mit Patienten und Anwendern. Diese Änderung wurde eingeführt, um das Verfahren zur Risikobewertung der ISO 14971 zu definieren und die Schutzvorrichtungen zu benennen, die sowohl für Patienten als auch für Anwender erforderlich sind. In früheren Ausgaben der IEC 60601 sind drei verschiedene Szenarien dargestellt, um die unterschiedlichen Interaktionsmöglichkeiten eines Gerätes mit dem Patienten zu definieren:

Geräte, bei denen keinerlei elektrischer Kontakt mit dem Körper des Patienten auftritt, wurden als Typ B (Body) klassifiziert. Typ BF (Body Floating) ist die Klassifizierung für Geräte, die in elektrischen Kontakt mit allen Bereichen des Patienten außer dem Herzen stehen. Der dritte Typ, Cardiac Floating, bezeichnet Einrichtungen, die potenzialfreie elektrische Verbindungen mit dem Herzen aufweisen.

Die in der dritten Ausgabe der IEC 60601 genannten Anforderungen an Schutzvorrichtungen (Means Of Protection: MOP) definieren die nötige Isolation zwischen spannungsführenden Teilen und sonstigen zu leitenden Gegenständen, die das betreffende Gerät berühren könnten, sowie zu allen Personen im nahen Umfeld. Für Stromversorgungen definieren Schutzklassen die notwendigen Spezifikationen, wie Luft- und Kriechstrecken, Isolierung und Erdungswiderstände.

Jede der beiden MOP-Typen besitzt wiederum Unterklassen. Ein Beispiel: Wenn die anfängliche Risikobeurteilung zeigt, dass eine Anlage in die MOOP-Klasse II für Bediener-Schutzmittel (­Means Of Operator Protection) eingestuft werden sollte, dann ist es mit einer Isolierung für 3000 V AC und einer Kriechstrecke von 5 mm auszulegen. Eine Anlage, die als weniger gefährlich beurteilt wurde, kann in die MOOP-Klasse I eingestuft werden, bei der eine Isolierung für 1500 V AC und 2,5 mm Kriechstrecke ausreichen.

Entsprechend der dritten Ausgabe der IEC 60601 erfordere der Zulassungsprozess also die zunehmende Kooperation der Gerätehersteller mit deren Zulieferern für Subsysteme, um zu garantieren, dass das Endprodukt der Gesetzgebung genügt und Patienten und Anwendern höchstmöglichen Schutz biete, merkt Lechner an.

2014 schließlich folgte die vierte Ausgabe der IEC 60601 und brachte weitere Anforderungen an Entwicklungsprozesse für medizinische Elektrogeräte.

»Im weiteren Verlauf des Jahres 2014 hat die FDA einen Leitfaden für Hersteller medizinischer Ausrüstungen veröffentlicht und darin empfohlen, bei der Entwicklung von Medizinprodukten gemäß der vierten Ausgabe vorzugehen. Man hat erwartet, dass darin vorgesehene neue Regelungen umgehend in die Praxis umgesetzt würden. Dementsprechend beinhaltet die vierte Ausgabe etliche Ergänzungen zur Gesetzgebung. Die wichtigsten Änderungen sind neue Anforderungen an die EMV-Störfestigkeit sowie eine erweiterte Risikoanalyse«, schildert Lechner. Zusätzlich zu den neuen EMV-Anforderungen für eingestrahlte und leitungsgebundene Störungen verlangt die neue Gesetzgebung nach erheblich strengeren Schutzkategorien bei elektrostatischen Entladungen sowie eine verbesserte Beständigkeit gegen Spannungsschwankungen und Unterbrechungen in der Stromversorgung. Die vierte Ausgabe verschärft auch die Anforderungen an die Störungsfestigkeit von Funkübertragungen und erhöht so den Schutz medizinischer Geräte.

»Die Umgebung, in der Geräte eingesetzt werden, berücksichtigt die vierte Ausgabe ebenso. Die für Geräte geforderte Störfestigkeitsklasse hängt davon ab, ob sie an einer geschützten medizinischen Einrichtung, zum Beispiel in einem Krankenhaus, oder an anderer Stelle angewendet werden, beispielsweise einem Wohngebäude oder in einer Industrieanlage«, führt Lechner aus.

Neu erfunden werden muss das sprichwörtliche Rad in Sachen Stromversorgungen für die Medizingeräte zwar nicht, aber die Änderungen müssen im Design von medizinischen Applikationen je nach Szenario – wie oben geschildert – berücksichtigt werden. Wer sich im neuen Regularien-Dschungel nicht alleine zurechtfinde, dem lasse Avnet Abacus aber die nötige Unterstützung durch seine Support-Mannschaft angedeihen bzw. man unterstütze bei der Auswahl regelkonformer Produkte, versichert Lechner.


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