Weniger Wanken für mehr Komfort

Schnelle autonome Spurwechsel mit Rollwinkelsteuerung

19. September 2024, 13:30 Uhr | Autoren: Yasuyuki Tanabe und Masayoshi Kimura, Redaktion: Irina Hübner
© Jammy Jean|stock.adobe.com

Der Fahrgastkomfort beim autonomen Fahren wird durch das sogenannte Ablehnen des Fahrzeugs beeinflusst, das beim Durchfahren von Kurven auftritt. Das Unbehagen von Insassen bei schnellen Querbewegungen lässt sich messen und mit einer neuartigen Wankstabilisierung das Fahrgefühl verbessern.

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Bei der Entwicklung autonomer Fahrtechnologien muss die Sicherheit der Fahrgäste immer an erster Stelle stehen. Damit sich autonome Fahrzeuge jedoch auf breiter Front durchsetzen können, ist der Komfort der Fahrgäste ebenso wichtig. Das sogenannte Ablehnen von Fahrzeugen beim Durchfahren von Kurven und insbesondere schnelle Spurwechsel, wie sie auf Autobahnen vorkommen können, führen aufgrund der hohen Seitenkräfte häufig zu Unbehagen bei den Passagieren.

Die herkömmliche Fahrzeugdynamik konzentriert sich vor allem auf Stabilität und Kontrolle, geht aber noch nicht ausreichend auf die differenzierten Anforderungen des Fahrgastkomforts ein. Eine Studie von Hitachi Astemo schließt diese Lücke. Sie stellt ein innovatives System zur Steuerung der Kurvenneigung eines Fahrzeugs vor, das die Unannehmlichkeiten beim Fahrspurwechsel minimieren soll.

Das Unbehagen verstehen: Ein neuer Bewertungsindex

An Kopf und Brust angebrachte Sensoren detektieren die körperlichen Reaktionen der Probanden auf Spurwechsel
Bild 1. An Kopf und Brust angebrachte Sensoren detektieren die körperlichen Reaktionen der Probanden auf Spurwechsel.
© Hitachi Astemo

Die Studie startete mit einem detaillierten Paneltest, um herauszufinden, was die Passagiere beim Spurwechsel als unangenehm empfinden. Die Probanden bewerteten ihren Komfort auf einer Skala von 1 (sehr unangenehm) bis 7 (sehr angenehm) unter verschiedenen Bedingungen, einschließlich verschiedener Lenkmuster und Rollwinkelgeschwindigkeiten. Zusätzlich maßen kleine Gyrosensoren an Kopf und Brust der Probanden ihre Bewegungen, um körperliche Reaktionen mit dem Komfortniveau zu korrelieren (Bild 1).

Die Hauptergebnisse des Paneltests

  • Ein trapezförmiges Lenkmuster, das durch einen größeren seitlichen Ruck gekennzeichnet ist, führte zu niedrigeren Komfortwerten.
  • Sinuslenkung mit erhöhter Querbeschleunigung reduzierte ebenfalls den Komfort.
  • Höhere Rollwinkelgeschwindigkeiten bei Trapezlenkung verringerten den Komfort, während die Sinuslenkung keine signifikante Veränderung bezüglich des Komfortniveaus zeigte.

Aufgrund individueller Unterschiede zwischen den Probanden konnten die Komfortwerte jedoch nicht einheitlich anhand der Kopf- und Brustkorbbewegungen bewertet werden. Dies führte zur Entwicklung einer neuen Hypothese: Das Unbehagen der Fahrgäste kann anhand des auf die Fahrgäste einwirkenden Rollmoments (Passenger Roll Moment, PRM) und seiner Änderungsrate (PRM-Rate) effektiv gemessen werden.

Zuverlässige Indikatoren für Unbehagen: PRM und PRM-Rate

Zur Quantifizierung des Unbehagens schlägt die Studie das PRM und die PRM-Rate, abgeleitet aus dem Fahrzeugverhalten, als zuverlässige Indikatoren vor. Dabei stellt das PRM die auf die Fahrgäste wirkende Belastung dar, während die PRM-Rate die Veränderungen dieser Belastung bewertet. Die Verifizierung zeigte, dass diese Messgrößen stark mit den Komfortbewertungen korrelierten und somit ein konsistentes und objektives Maß für Unbehagen darstellten.

Die Ergebnisse im Detail:

  • Unterschiede im Unbehagen aufgrund von Lenkmustern und Rollwinkelgeschwindigkeiten konnten mit PRM und PRM-Rate ausgedrückt werden.
  • Das Unbehagen der Fahrgäste konnte durch Querbeschleunigung, Querruck und Rollwinkelgeschwindigkeit allein nicht erfasst werden. Es wurde aber durch PRM und PRM-Rate genau dargestellt.

Rollwinkelsteuerung für mehr Komfort

Umgekehrter Neigungswinkel (oberes Fahrzeug): Die Karosserie neigt sich in die entgegengesetzte Richtung der Querbeschleunigung
Bild 2. Umgekehrter Neigungswinkel (oberes Fahrzeug): Die Karosserie neigt sich in die entgegengesetzte Richtung der Querbe-schleunigung.
© Hitachi Astemo

Um das PRM und die PRM-Rate zu reduzieren, schlägt die Studie eine Lösung für die Rollwinkelsteuerung des Fahrzeugs vor. Sie besteht darin, ein umgekehrtes Ablehnen zu erzeugen, bei dem sich die Karosserie in die entgegengesetzte Richtung der Querbeschleunigung neigt. Dadurch wird die auf die Fahrgäste wirkende Belastung verringert.

Ein solches Steuersystem besteht aus motorgetriebenen Aktuatoren, die die Höhe des Fahrzeugaufbaus an jedem Rad einstellen und so den Rollwinkel effektiv steuern. Das vorgeschlagene System zielt darauf ab, ohne Verzögerung einen umgekehrten Neigungswinkel einzunehmen und eine sofortige Reaktion auf die Querbeschleunigung zu gewährleisten. (Bild 2)

Simulation und Validierung in der realen Welt

Simulationen unter kontrollierten Bedingungen (100 km/h Geschwindigkeit, 3 s Lenkzyklus, 3,5 m seitliche Bewegung) bestätigten die Wirksamkeit des umgekehrten Ablehnens. Die Ergebnisse zeigten, dass das PRM und die PRM-Rate mit der umgekehrten Neigung im Vergleich zur normalen Neigung deutlich geringer sind. Das deutet auf einen höheren Komfort hin.

Validierung mit Prototypenfahrzeug: Normale Neigung bei einer Rechtskurve (links) versus umgekehrte Neigung (rechts)
Bild 3. Validierung mit Prototypenfahrzeug: Normale Neigung bei einer Rechtskurve (links) versus umgekehrte Neigung (rechts).
© Hitachi Astemo

Um die Simulationsergebnisse in realen Szenarien zu verifizieren, wurde ein mit dem neuen Aufhängungssystem ausgestattetes Prototypenfahrzeug getestet. Die Testbedingungen entsprachen denen der Simulationen, und die sensorischen Bewertungen der Testpersonen bestätigten die vorherigen Ergebnisse: Die Passagiere bewerteten das umgekehrte Ablehnen durchweg als komfortabler und hoben die geringere Belastung und das ruhigere Fahrgefühl hervor (Bild 3).

Ergebnisse für die Automobilindustrie

Mit den Ergebnissen der Studie will Hitachi Astemo der Automobilindustrie neue Möglichkeiten bei der Entwicklung autonomer Fahrzeuge eröffnen. Durch die Integration fortschrittlicher Rollwinkelsteuersysteme können die Hersteller den Fahrgastkomfort erheblich verbessern und damit eines der entscheidenden Hindernisse für die breite Einführung autonomer Fahrzeuge aus dem Weg räumen.

Die umgekehrte Rollwinkelsteuerung hat sich als wirksame Methode zur Komfortverbesserung erwiesen. Jedoch ist weitere Forschungsarbeit erforderlich, um diese Technologie zu verfeinern. In künftigen Studien sollen die Auswirkungen auf verschiedene Sitzpositionen betrachtet werden und die Übertragbarkeit auf andere Fahrszenarien – wie beispielsweise auf Nickbewegungen beim Beschleunigen und Abbremsen – untersucht werden. Darüber hinaus sollten auch die potenziellen Vorteile dieses Steuerungssystems für menschliche Fahrer beurteilt werden.

Der Ansatz von Hitachi Astemo zur Steuerung des Rollwinkels stellt nach Einschätzung des Unternehmens einen bedeutenden Fortschritt bei der Verbesserung des Fahrgastkomforts in autonomen Fahrzeugen dar. Durch die Fokussierung auf objektive Messgrößen wie das PRM und die PRM-Rate bietet die durchgeführte Studie eine zuverlässige Methode zur Messung und Linderung von Unbehagen bei Spurwechseln. Im Zuge der weiteren Entwicklung der Automobilindustrie kann die Integration solcher Technologien entscheidend dafür sein, dass das autonome Fahren nicht nur sicher, sondern auch komfortabel ist.

 

 

 

 

 

Yasuyuki Tanabe von Hitachi Astemo
Yasuyuki Tanabe von Hitachi Astemo.
© Hitachi Astemo

Die Autoren

Yasuyuki Tanabe
ist Entwicklungsingenieur Next Generation Chassis Development Group bei Hitachi Astemo

 

 

 

Masayoshi Kimura  von Hitachi Astemo
Masayoshi Kimura von Hitachi Astemo.
© Hitachi Astemo

 

Masayoshi Kimura
ist Technical Manager Research and Development bei Hitachi Astemo.

 

 

 


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