Nun war Lenard ein kluger Kopf und sein Freund und Mitstreiter Johannes Stark (der den Effekt der Aufspaltung von Spektrallinien im statischen elektrischen Feld beschrieben hatte, Nobelpreis 1919) auch. Es ist erstaunlich, wie sich intelligente Leute so schrecklich in abstrusen Theorien wie etwa der eines in zwei Varianten vorkommenden Äthers als Ausbreitungsmedium für elektromagnetische Wellen verlieren konnten. Und wie blind sie gegen alle abweichenden Meinungen gekämpft haben. So konnte sich Lenard schon ganz am Anfang der 20er Jahre mit den Nationalsozialisten verbünden. Einige hatten ja schon ein krudes esoterisches Weltbild (Rosenberg, Eiswelttheorie, Innenwelttheorie) in die Partei eingebracht. Verschwörungstheorien waren da hochwillkommen, Verschwörungen dem Weltjudentums zu unterstellen erst recht, sogar gegen die Physik. Die Relativitätstheorie als Fälschung passte da hervorragend.
Paradox ist, dass Lenard sich als Erzrationalist sah, der nur die exakten Naturwissenschaften für relevant hielt, Literatur, Kunst und Geisteswissenschaften allgemein aber als Unfug und Zeitverschwendung ablehnte. Vielleicht war es diese einseitige Ausrichtung, die das Abdriften in die Esoterik begünstigt hat, die er ja gerade bekämpfen wollte. Interessant dabei, dass Mathematik eine Geisteswissenschaft ist. Und es bestätigt sich mal wieder der Spruch des Chemie-Nobelpreisträgers Linus Pauling: Wer nur Chemie kann, kann auch die nicht.
Noch erschreckender ist, dass die Vertreter der Deutschen Physik es bei der Diskussion der Theorie nicht beließen, sondern dafür gesorgt haben, dass die von ihnen bekämpften Physiker mit der »Jüdischen Physik« identifiziert wurden (da lief während der ganzen 20er eine intensive »Fake-News«-Kampagne).
Sie nahmen in Kauf und beförderten sogar, dass die physische Existenz dieser Wissenschaftler vernichtet wurde, dass sie ins Ausland fliehen mussten und sie nahmen es hin, dass sie im Konzentrationslager endeten. Die Deutsche Physik war also nicht nur als eine wissenschaftliche Verirrung, sondern war darauf ausgelegt, Abweichler zu vernichten. Dennoch kam Lenard nach dem Krieg als Mitläufer glimpflich davon.
Worauf die Autoren im Buch nicht eingehen, weil sie ausschließlich die »deutsche« Auseinandersetzung um die Relativitätstheorie behandeln: In Diktaturen sind solche Verirrungen leider nicht nur möglich, sondern meist sogar willkommen, zumindest um alte Rechnungen zu begleichen. In der Sowjetunion wurden die Biologen, die sich mit Genetik beschäftigten, als Volksschädlinge eliminiert, denn in Genen festgelegte Vererbung durfte es aus ideologischen Gründen nicht geben. Der Mensch war ausschließlich das Produkt seiner Erziehung, also der Gesellschaft, in der er lebt. Diese Säuberungen haben die Biologie in der Sowjetunion ebenso zurückgeworfen wie die Physik in Deutschland. Leider haben sich auch dort nicht nur Dummköpfe sondern auch fähige Wissenschaftler gefunden, die die ideologischen Säuberungen der Wissenschaft unterstützt haben.
Grundsätzlich bleibt es eine interessante Frage, warum sich die Welt entsprechend der Regeln unserer von Menschen gemachten (oder entdeckten?) Mathematik verhält. Obwohl sie zu Ergebnissen führt, die unseren Erfahrungen aus der makroskopischen Welt bisweilen widersprechen. Dennoch vermitteln uns die Mathematik Erkenntnisse über Teile unsere Welt, die jenseits dessen liegen, was unseren Sinnen jemals zugänglich sein wird. Das Kriterium der Überprüfbarkeit durch Experimente müssen sie sowieso erfüllen. Es handelt sich also nicht um vollkommen abgehobene Konstrukte, wie dies die Deutschen Physiker suggerieren wollten.
Das aber außerhalb der Wissenschaft zu diskutieren und ideologisch oder religiös aufzuladen, führt zwangsläufig in die Irre und zu Mord und Totschlag. Das zeigt das Buch über Lenard und Einstein auf beeindruckende und bisweilen deprimierende Weise.