Elektronische Implantate

Hören und Sehen lehren

23. November 2010, 11:55 Uhr | Dr. Cordula Hansen

Wenn Blinde wieder sehen und Taube wieder hören können, dann ist das ein Wunder, bewerkstelligt durch Netzhaut- bzw. Cochlea-Implantate. Diese elektronischen Prothesen sind funktionale elektrische Stimulatoren (FES), die verlorene motorische und sensorische Funktionen wieder herzustellen vermögen. Eine zum Teil sehr hohe Anzahl von Ausgangskanälen, sehr begrenztes Raum- und Leistungsbudget sowie eine hohe Anzahl an Sicherheitseigenschaften machen diese Systeme extrem anspruchsvoll, insbesondere auch beim Entwurf der Elektronik.

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Das hat auch das edacentrum erkannt und zusammen mit den in dieser Institution or­ganisierten Unternehmen und For­schungseinrichtungen das »eDesign 2010 – 2014« genannte Forschungs­themenpapier entwickelt.

Deutsch­land ist nach den USA und Japan der weltweit drittgrößte Produzent von Medizintechnik. Der weltweite Umsatz mit Medizintechnik betrug im Jahr 2009 etwa 250 Mrd. Euro. Hiervon entfallen 30 % auf den euro­päischen Markt, an dem Deutschland einen Anteil von ebenfalls 30% hält.

Prognosen gehen davon aus, dass der weltweite Medizintechnikmarkt bis zum Jahr 2020 auf über 450 Mrd. Euro wachsen wird. Somit ist die Medizintechnik eine der tragenden Säulen für Wachstum und Beschäfti­gung in Deutschland, hat der VDE in seiner Studie »MedTech 2020« fest­gestellt.

Als wichtigste Schlüsseltech­nologien für die weitere Entwicklung im Gesundheitswesen gelten Com­puterwissenschaften, Informations- und Kommunikationstechnik sowie die Zell- und Biotechnologien. Den größten Bedeutungsgewinn erwarten Experten, ebenfalls laut der VDE-Stu­die, in den Bereichen regenerative Medizin, Telemedizin und eHealth (Digitalisierung des Gesundheitswe­sens) sowie Prothesen und Implanta­te.

Bemerkenswert ist, dass die deut­sche Medizintechnik-Industrie rund 9% des Umsatzes in Forschung und Entwicklung investiert und hier fast 15% der Mitarbeiter beschäftigt.

EDA für sichere Schnittstellen­schaltungen

 

Bild 1: Professor Maurits Ortmanns versucht, Elektronik mit Biologie zu »verheiraten«

Prof. Maurits Ortmanns (Bild 1), Lei­ter des Instituts für Mikroelektronik der Universität Ulm, sieht viel Forschungspotenzial in der Medizinelek­tronik.

Spezielle mikroelektronische Schaltungen und Chip-Design sind denn auch die Kernthemen seiner Forschungsarbeiten, dazu Elektronik für biomedizinische Anwendungen.

Forschungsschwerpunkte sind dabei sichere Schnittstellenschaltungen zu neuronalem Gewebe, sowohl zur funktionalen Stimulation als auch zur neuronalen Signalauf­nahme (Brain-Computer-Interface BCI), weshalb er anmerkt:

»Viele der Technologien, die wir nutzen, liegen in der Miniaturisierung weit hinter den nano-skalierten Bauele­menten von modernen Kommuni­kations- und Computerchips. Dies liegt daran, dass wir für Implantate oft Technologie-Optionen benöti­gen, die in modernsten Nanometer-Technologien nicht zur Verfügung stehen. Darunter fallen insbesondere Hochvolt-Optionen, also Schaltun­gen, die mit weit mehr als den üb­lichen 1 V bis 3 V arbeiten können, aber auch optische Anwendungen und Mikrostrukturierung.«

Interdisziplinär entwickeln

Hinzu kommen Forschungsschwer­punkte in den benötigten Hilfsschal­tungen, unter anderem zur drahtlo­sen Energieübertragung sowie zur Kommunikation, also Systemkom­ponenten, die zur vollständigen Implantation benötigt werden. Bei Implantaten kommt zumeist eine telemetrische Energieversorgung zum Einsatz.

Hier sind, ähnlich wie bei RFIDs, zwei Spulen miteinander gekoppelt. In die eine wird elekt­rische Energie eingespeist. Durch das magnetische Feld steht in der zweiten Spule ein Bruchteil dieser Primärenergie zur Verfügung. »Klassisches« Energy Harvesting stellt im Körper nur geringe Leistungen zur Verfügung, was für übliche implan­tierbare Systeme und Anwendungen nicht ausreicht.

Als naheliegendes Beispiel zieht Ortmanns den Herzschrittmacher heran: Dieser soll nicht von bestimmten Umgebungs­einflüssen abhängig sein, sondern ununterbrochen funktionieren: »Die Forschungsarbeiten laufen auf Hochtouren, so dass es zukünftig sicherlich die eine oder andere An­wendung geben wird, bei der reines Energy Harvesting ausreicht.«

Indes besteht noch großer Hand­lungsbedarf, was die Kombination aus Elektronik und dem umgeben­den System, einem Mix aus verschie­denen Komponenten wie Mechanik, Fluidik, Optik und Elektrochemie, im Schaltungsentwurf anbelangt. Zwar behaupten die Großen der EDA-Branche, fit für einen effizien­ten Brückenschlag zwischen MCAD und ECAD zu sein.

Doch in der Pra­xis zeigt es sich, dass man zumeist noch in zwei Welten arbeitet: Das elektronische System wird gebaut, wobei die Schnittstelle und das ange­schlossene System stark vereinfacht modelliert werden, bzw. umgekehrt. »Hier ist sicher noch ein großer Be­darf an effizienter CAD/EDA zu se­hen«, resümiert Ortmanns mit Blick auf Multi-Domain-Simulationen.

So lässt sich die elektrische Messung der wenige mV großen Reaktion des Nervengewebes auf eine meh­rere Volt umfassende Stimulation mit konventionellen EDA-Tools nur schwer simulieren, und vieles basiert auf einer rudimentären Modellbil­dung. Ganz oben auf der Wunsch­liste steht für den Gelehrten deshalb beispielsweise die Machbarkeit einer effizienten elektrochemischen Si­mulation in Kombination mit dem elektronischen System.

Auch die Verkopplung von Sensorik und Aktorik mit integrierter Elektro­nik stellt gänzlich unterschiedliche Anforderungen, je nach Applikation. Die Erfordernisse der Sensorik in der Medizintechnik sind vielfältig und reichen von einer sehr hohen Empfindlichkeit und starker Paral­lelität über eine hohe Dynamik bis hin zu sicheren Schnittstellen.

Letz­tere dürfen beispielsweise keinen negativen Einfluss auf das biologi­sche Umfeld haben. Beispiele hier­für sind In-Vitro-Biosensoren (etwa DNS-Sensoren) beziehungsweise die neuronale Signalaufnahme (BCI). Gleichermaßen sind die Erfordernis­se der Aktorik in der Medizintechnik hoch.

Bild 2: Das epiretinale Stimulationssystem
© Ortmanns/ISSCC 2006

Diese können eine hohe Dyna­mik (beispielsweise hohe benötigte Ströme/Spannungen) und sichere Schnittstellen (ohne negativen Ein­fluss auf das biologische Umfeld, zum Beispiel das neuronale Gewebe) beinhalten.

Erfolgsstory Retina-Implantat

Ein Beispiel für die erfolgreiche An­wendung eines funktionalen elek­trischen Stimulators (FES) ist das Retina-Implantat, wovon weltweit überwiegend zwei Varianten ent­wickelt werden.

Hier arbeitet das Institut für Mikroelektronik mit zwei deutschen Firmen zusammen, und zwar Prof. Ortmanns mit der Bonner Firma IMI an einem epiretinalen Implantat (Bild 2) und Prof. Albrecht Rothermel mit der Retina AG in Reutlingen an einem subretinalen Implantat (Bild 5).

 

Bild 5: Funktionsschema eines subretinalen Implantats

Das subretinale Implantat beherbergt ein aus vielen kleinen Photozellen bestehendes CMOS-IC, das mit einer Prozesstechnik von 0,35 μm realisiert wurde.

Mit einer Höhe von 70 μm ist es kaum dicker als ein mensch­liches Haar. Dieser Netzhaut-Chip übernimmt die Funktion der abge­storbenen Sehzellen:

Auf einer Fläche von 3 mm x 3,5 mm drängen sich 1500 Photozellen samt Schaltkreisen für Verstärkung, Helligkeitsanpas­sung und Sicherheitsschaltung.

Die aus Titan-Stickstoff (TiN) bestehen­de Chip-Oberfläche umfasst 52 μm2 wobei 15 × 48 μm2 auf die Bildpunkte (Pixel) entfallen.

Jede einzelne Pho­tozelle reagiert auf Licht und schaltet helligkeitsdosiert über winzig kleine Elektroden externen Strom auf die darüber liegenden Nervenzellen:

Im Prinzip funktioniert sie also wie ein Lichtempfänger in der Netzhaut. An der Spitze des Implantats befindet sich eine Art Zunge, auf der weitere 16 kleine Elektroden auf einer Fläche von 15 μm2 angebracht sind.

Bild 3: Die Architektur des Retina-Stimulator-ASICs
© Ortmanns/IEEE JOURNAL 2007

Im Fokus der Pilotstudie standen Patienten mit Retinitis Pigmentosa, einer erblich bedingten Netzhauter­krankung, die auf degenerierte Pho­torezeptoren zurückzuführen ist. Die Patienten konnten daraufhin Muster sehen, Gegenstände lokalisieren und Lichtquellen beschreiben.

Auch bei der zweiten Variante ist das Ziel, dass der Chip bald schon den Blindenstock ersetzt. Zum epireti­nalen Implantat, dessen Entwicklung von Prof. Ortmanns zusammen mit IMI vorangetrieben wird, gehören neben dem Chip (Retina-Stimulator, Bild 3) eine Kamerabrille als visuel­les Interface (Bild 4) und ein kleiner Computer (»Pocket Processor« in der Größe eines Walkmans), der die Daten an den Chip sendet.

Bild 4 : Gesamtsystem des epiretinalen Implantats
© Ortmanns/IEEE JOURNAL 2007

Diese werden bei der elektrischen Direktstimulation zur Prüfung der Reaktionsweise der Nervenzellen einzeln oder in Grup­pen aktiviert.

Die Prüfung dient dazu, gezielt Lichtwahrnehmungen auszulö­sen und die günstigste elektronische Einstellung für die Wahrnehmungsver­mittlung herauszufinden.

Durch die Direktstimulation ist es – unabhängig von der Chip-Funktion – möglich, weitere wichtige Informationen zu gewinnen.

Die für die Verstärkung notwendige externe Energieversorgung wurde in der Pilotstudie über ein dünnes, flexibles Folienkabel realisiert.

Ins Auge eingeführt, verläuft dieses Ka­bel unter der Kopfhaut die Schläfe entlang und endet in einem Stecker hinter dem Ohr.

Das netzhautscho­nende so genannte transchoroidale Operationsverfahren zur Platzierung des Chips in der Nähe des Sehnervs wurde an der Universität Tübingen entwickelt.


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