Und was heißt »mehr Flexibilität« nun in der Praxis? Die weit verbreitete Behauptung, dass man sich Flexibilität zu Lasten hoher Bestände »erkaufen« muss, widerlegt Dr. Uwe Schmidt-Streier, Geschäftsführer von Flextronics SBS Germany. Schmidt-Streier betreibt seine Fertigung in Paderborn strikt nach dem Lean-Prinzip und hat dabei dem Automobilhersteller Porsche über die Schulter geschaut: Der Premiumhesteller fährt eine konsequente Single-Source-Strategie und hat selbst nur eine niedrige Wertschöpfung im Haus. Die meisten Teile kommen von den über 600 Zulieferern. »Eine hohe Liefertreue und niedrige Bestände widersprechen sich nicht, im Gegenteil: Durch ein integriertes Bedarfsmanagement, kleinere Losgrößen sowie abgestimmte Bestell- und Produktionsmengen lassen sich sogar beide Größen verbessern«, schildert Oliver Neumann, Projektmanager bei Porsche Consulting. Denn auch wenn sich die Anforderungen an einen Automobilhersteller und einen EMS-Anbieter hinsichtlich der Varianz des Produktspektrums und die Bandbreite der Flexibilität deutlich unterscheiden, sind bewährte Prinzipien dennoch übertragbar.
Den Königsweg hin zu mehr Transparenz und Flexibilität sieht Johann Weber, Vorstandsvorsitzender von Zollner Elektronik, in der atmenden Supply Chain: Die setzt er in den eigenen Werken mit Hilfe von Inselproduktionen und der Lieferantenselbststeuerung um: Dabei kommen die Materiallieferungen direkt Ship-to-Line in die Fertigung des EMS-Dienstleisters. Das Ergebnis: Es gibt für die Inselproduktionen weder einen Wareneingang noch eine Warenannahme oder eine Wareneinlagerung. Damit solche Konzepte in der Praxis funktionieren, ist allerdings schon einiger theoretischer Aufwand erforderlich: Geplant wird am Computer alles mit Hilfe der »Digitalen Fabrik«.
Geht eine Flexibilität, die gleichbedeutend ist mit null bzw. sehr niedrigen Beständen, zu Lasten der Lieferanten? Das Bestellverhalten der Kunden wird jedenfalls immer digitaler und das vor allem zum Unmut der Distributoren: »Wir müssen uns die Frage stellen, wer eigentlich für die Flexibilität bezahlt«, gibt Erwin Luginsland, Director von Avnet Supply Chain Solutions zu bedenken. Denn irgendjemand müsse die Bestände schließlich vorhalten, denn »wir können nicht von heute auf morgen Bauteile schnitzen. Als Distributor haben wir das volle Lager- und Stornorisiko und wir haben kaum eine Wahl, außer wir sagen ’nein’«. Da wäre nach Ansicht von Luginsland an einigen Stellen schon mehr Fairness in der Lieferkette angebracht: Denn schließlich geht es bei einer Kunden-Lieferanten-Beziehung in beide Richtung ganz entscheidend um Partnerschaft. Und die dürfe keine Einbahnstraße sein, so Luginsland: »Wir brauchen auf beiden Seiten Kompromissbereitschaft. Wenn ein Kunde ganz offen zugibt: »Wir tun für unsere Kunden alles, aber für unsere Lieferanten nichts« – damit zitiert Luginsland ein ganz reales Beispiel –, dann hat das nichts mehr mit Fairness zu tun.