Das heutige Szenario erinnert durchaus an die Jahre 2000 und 2001 – ist die Lieferkette nicht lernfähig? »Wohl kaum«, meint Oliver Behrendt, Geschäftsführer von Sumida EMS (ehemals Vogt EMS). »Das Problem beginnt schon beim Bestellverhalten unserer Kunden«, so Behrendt. »Wir bekommen kein Commitment, nur sehr vage Angaben über Bestellungen und Stückzahlen.« Dabei habe man die Kunden schon seit Mitte letzen Jahres darauf aufmerksam gemacht, dass in einigen Bereichen Allokation droht. Fest steht, so der Tenor der Runde, die Kunden wollen sehr flexibel agieren können und geben diese Anforderungen in der Lieferkette weiter an den EMS-Dienstleister. Früher seien für Zulieferer beispielsweise im Automotive-Markt Nomination Letter mit ungefähren Stückzahlen üblich gewesen, heute erhält der Zulieferer nur mehr einen Nomination-Letter ohne Stückzahlen.
Hinzu kommt, dass so mancher Kunden momentan noch nicht einmal mit Lieferzeiten von 12 bis 16 Wochen leben können, was eigentlich eine ganz normale Lieferspanne ist. Einen Chip zu produzieren dauert seine Zeit, allerdings zieht die vor allem bei fabless arbeitenden Chip-Herstellern sehr zergliederte Chip-Produktion nach Ansicht von Tillmann den Produktionsprozess und damit die Lieferzeit noch zusätzlich in die Länge: »Herstellung, Bonding, Packaging – diese Schritte erfolgen oft in unterschiedlichen Produktionsstätten und das braucht einfach seine Zeit.« Die engen logistischen Verund Anbindungen, eigentlich eine positive Errungenschaft der Lieferkette, haben das Problem noch zusätzlich verschärft, gibt Johann Weber, Vorstandsvorsitzender Zollner Elektronik, zu bedenken. »Dadurch atmen wir genau im Rhythmus des Marktes.« Anders ausgedrückt, heißt das: Die Lieferkette hat im vergangen Jahr »von der Hand in den Mund gelebt«, die Lager so exakt wie möglich den Bedarfen angepasst bzw. auf ein Minimum zurückgefahren. In der Folge waren und sind die Lager daher nicht auf den Ansturm gerüstet, der sich seit Ende 2009 abzeichnet.
Hier sieht auch Bernhard Rindt, Mitglied der Geschäftsführung bei SRI, das entscheidende Problem: »Die einzelnen Elemente in der Lieferkette haben sich im letzten Jahr nur auf die Cash-Optimierung konzentriert. Jetzt greift der Kunde quasi unberechenbar in die Kette ein, und schon gerät die Lieferkette aus der Balance.« Klaus Kroesen, Vorstand EN Electronic Network, erkennt im aktuellen Dilemma aber auch die Chance, die Kunden wieder mehr für die Probleme der Lieferkette zu sensibilisieren: »Wir müssen dem Kunden verständlich machen, dass er Teil der Lieferkette ist und damit auch dazu beitragen muss, solche Situationen künftig besser im Griff zu haben.«
Eine kurzfristige Lösung für das Problem ist unwahrscheinlich, dennoch gibt es einige Ansätze, um die Materialproblematik zumindest mittelfristig besser in den Griff zu bekommen: So sieht Stahl eine mögliche Lösung in langfristigen Partnerschaften mit Lieferanten und Kunden. Schon heute zeige sich, so Stahl, dass man mit langfristigen Lieferanten- und Kundenbeziehungen so gut wie keine Probleme habe. Mehr Transparenz in der Lieferkette fordert Weber: »Wir brauchen deutlich mehr Transparenz in der Supply Chain zu den Kunden, aber auch zurück zu den Distributoren und Herstellern. Die Ketten müssen noch viel mehr miteinander verknüpft werden, damit sie funktionieren.
»Wir müssen die Lieferkette heute mit anderen Kennzahlen regeln, als wir es noch vor einigen Jahren getan haben. Zum Beispiel hat die Kennzahl Bookto-Bill heute keine entscheidende Bedeutung mehr, trotzdem machen viele Unternehmen den Fehler und orientieren sich an dieser Kennzahl«, so Weber. Verbesserungspotenzial sehen die Teilnehmer auch beim Second Sourcing (siehe Kasten) und im Design-in. Mittlerweile habe es sich eingebürgert, erklärt Weber, dass nur noch eines oder maximal zwei Bauteil-Alternativen freigegeben sind, früher waren es drei bis vier. Hier müsse ein Umdenken stattfinden, fordern die Teilnehmer. Hinzu kommt, dass der EMS- Kunde allzu oft Bauteile eindesignt, die schon am Ende ihres Lebenszyklus stehen; ein Problem, das durchaus in den Griff zu bekommen wäre, wenn der EMS-Dienstleister früher in den Entwicklungsprozess des Kunden eingebunden würde.