Mittlerweile in der Produktion unverzichtbar: Manufacturing Execution Systems

MES: Wer füllt die "Kratzer-Lücke"?

14. November 2011, 11:10 Uhr | Karin Zühlke

Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Was muss ein MES-System für die Elektronikfertigung können?

Dieter Motz, Siemens
Dieter Motz, Siemens: »Weil Siemens sehr viele eigene Elektronikfertigungen hat, hatten wir für die praktischen Erprobungen viele Möglichkeiten.«
© Siemens

Ob ein Industriestandard-MES auch den besonderen Anforderungen der Elektronikfertigung gerecht werden kann, wird im MES-Markt nach der Abkündigung von Kratzer besonders konträr diskutiert. Verständlicherweise vertreten Unternehmen, die bislang noch wenig bis gar keine Erfahrung im Elektronikfertigungssektor haben, den Standpunkt, dass so ein übergreifendes MES-System auch spezifischen Anforderungen gerecht werden kann, während die MES-Firmen, die schon gut etabliert sind im Fertigungsmarkt, auf ihren Erfahrungsvorsprung und diverse Spezial-Features verweisen.

Die Elektronikfertigung verarbeitet zum einen sehr große Stückzahlen an Bauteilen pro Stunde. Zum anderen werden die Losgrößen für die Fertiger in Europa immer kleiner. »Das bedeutet noch mehr Aufwand für die Produktionsplanung. Darüber hinaus zwingen ständig neue Umweltvorschriften die Fertiger dazu, ihre Prozesse an umweltfreundlichere Materialen und Fertigungsverfahren anzupassen«, gibt Motz zu bedenken. Der Industriekonzern hat mit Simatic IT ein MES-System auf dem Markt, das mittlerweile weltweit in über 100 Elektronikfertigungen zum Einsatz kommt. Entstanden ist das System teils aus den Siemens-eigenen Bedürfnissen und Anforderungen an die Elektronikfertigung. Viele wichtige Bausteine wie die Reparaturstation für Leiterplatten stammen zudem aus dem im Jahr 2007 zugekauften MES-System von UGS, das UGS eigens für die Elektronikfertigung entwickelt hat. »Weil Siemens sehr viele eigene Elektronikfertigungen hat, hatten wir für die praktischen Erprobungen viele Möglichkeiten«, führt Motz aus und verweist dabei auch gleich auf die Funktionsbibliothek für die Elektronikfertigung, die dem Simatic IT System ein besonderes Alleinstellungsmerkmal unter den MES-Systemen beschert: So kann Simatic IT die Daten direkt aus den Elektronik-CAD-Systemen übernehmen, optimierte Bestück- und Testprogramme erstellen und das MES-System mit den kompletten Daten für die Reparaturstationen füttern. Dort scannt der Bediener die defekte Leiterplatte, gleichzeitig werden die CAD-Daten angezeigt und auch die Fehlermeldungen hervorgehoben. Die Fehlerdaten kommen dabei von den AOI-Systemen, In-Circuit-Systemen oder von Funktionsteststationen.

Daniel Walls, Aegis
Daniel Walls, Aegis: »Wir wollen in Europa und Asien deutlich wachsen.«
© Aegis

Eine weitere besondere Anforderung an MES-Systeme in der Elektronikfertigungsbranche ist die Anbindung der heterogenen Maschinenparks wie SMD-Linien, AOI oder ICT. Die Integration der Maschinen in die MES-Welt erfolgt über Maschinenschnittstellen. »In der Vergangenheit waren diese Schnittstellen »unidirektional« ausgelegt, weil die branchenspezifischen Traceability-Anforderungen nur eine Protokollierung des SMD-Prozesses vorgeschrieben haben. Die Fabrik konnte somit auch ohne MES fertigen, weil man die Prozessinformationen in lokalen maschinennahen Filearchiven zwischenspeichern und nachträglich an das MES übermitteln konnte. Mittlerweile verlangen aber die Traceability-Normierungen der OEMs eine »Prozessverriegelung« gegen die Entwicklungs-, Produkt- und Prozessvorgaben. Somit muss der Fertiger jedes einzelne Nutzen einer Leiterplatte in jedem Prozessschritt gegen die einzelnen Vorgaben, die im MES hinterlegt sind, verifizieren. »Das hat zur Folge, dass die Maschinenschnittstellen bidirektional ausgelegt sein müssen«, schildert Meuser. Und das wiederum bedeutet nach Ansicht von Meuser, dass die Verfügbarkeit des MES wie die Verfügbarkeit von »Luft, Wasser und Strom« für eine E-Fabrik zu werten ist. Das Ganze werde noch verschärft durch die Tatsache, dass die Antwortzeiten der Schnittstelle zwischen MES und Anlagenmodul pro Statusabfrage unter 500 ms liegen müssen. Ansonsten ist das MES »taktzeitbeeinflussend«. »Sollten also die Verfügbarkeit und das Antwortzeitverhalten des MES über 24 Stunden und 7 Tage (24/7) nicht gegeben sein, wird das MES sehr schnell zum »Schreckgespenst« für jeden Fertigungsverantwortlichen.« Hinzu kommt, dass sich die SMD-Anlagenhersteller bislang nicht auf eine Standard-Schnittstelle geeinigt haben, was die MES-Anbieter in der Elektronik vor weitere Herausforderungen stellt. 

Überdies lässt sich laut Meuser eine für die Null-Fehler-Fertigung erforderliche Prozessverriegelung nur mit einer plattformunabhängigen, skalierbaren und gleichzeitig hochverfügbaren »Middleware-Technologie« umsetzen, wie sie itac in Form der Technologieplattform iTAC.ARTES einsetzt. iTAC.ARTES basiert auf dem plattformunabhängigen »Java EE 6«-Industriestandard. »Nur wenige moderne MES-Produkte verfügen über eine solche Basistechnologie. Daher verabschieden sich immer mehr MES-Anbieter aus der Elektronikbranche, weil sie den Anforderungen der ’MES Champions League’ nicht gewachsen sind«, erklärt Meuser. itac hingegen gehört zu den wenigen MES-Firmen, die bereits gut im Elektronikfertigungssegment vertreten sind: Das Software-Unternehmen hat weltweit 25 Kunden in der Elektronikindustrie mit insgesamt 50 Werken und 15.000 integrierten Anlagenmodulen, etwa 20 Prozent davon sind EMS-Dienstleister.      
Der Wettbewerb wird allerdings künftig enger werden für die Arrivierten: Denn auch »neue« MES-Firmen drängen auf den deutschen Markt. So ist der in den USA ansässige MES-Anbieter Aegis weltweit in der Elektronikfertigung bereits gut etabliert und will nun in Deutschland durchstarten. Wobei der Begriff »neu« hier eher Definitionssache ist, denn momentan nutzen in Deutschland immerhin schon etwa 45 Kunden das Aegis-System, darunter etwa zwei Drittel OEMs und ein Drittel EMS-Firmen. Besonders im EMS-Sektor sieht Walls noch viel Bedarf für sein MOS. Mittelfristig soll sich das Verhältnis OEMs zu EMS auf 50:50 einpendeln. Aegis verfügt insgesamt über eine Kundenbasis von mehr als 1000 Unternehmen in den Marktsegmenten Elektronik-Baugruppen, Medizingeräte, Automotive und Militär/Luft- und Raumfahrt. Partnerschaften bestehen außerdem mit 36 Fertigungsequipment-Herstellern, man gehört damit weltweit zu den MES-Spitzenreitern. In den USA ist Aegis mit seinem »MOS« dementsprechend schon sehr erfolgreich, nun will Europachef Daniel Walls die Gunst der Stunde auch in Deutschland nutzen.

Den Begriff »MOS« anstelle von »MES« hat Aegis übrigens bewusst gewählt, wie Daniel Walls, European Managing Director von Aegis, erklärt: »Wir wollen damit aussagen, dass unser System mehr bietet als ein klassisches MES-System, indem wir auch den NPI-Prozess, also die Phase zwischen Produktentwicklung und Serienanlauf, abdecken.« Ein weiterer Vorteil: Das Aegis MOS greift für alle Prozesse auf eine zentrale SQL-Datenbank zurück, in der sämtliche Produkt-, Test-, und Materialdaten einfließen. Dadurch, so Walls, gibt es natürlich viel weniger Fehlerquellen, als wenn mehrere teils proprietäre Datenbanken, beispielsweise eine separate Datenbank für das Materialmanagement, im Einsatz sind. Das System ist komplett webbasiert. Einen entscheidenden Schritt für seine »Deutschland-Offensive« hat Aegis bereits getan: Seit dem 1. Juni gibt es das MOS komplett in deutscher Sprache, seit Oktober ist auch die deutsche Webseite online. Der lokale Bezug ist im MES-Bereich unerlässlich: Wer als MES-Anbieter auf dem deutschen Fertigungsmarkt Fuß fassen will, muss seinen Service auch in Landessprache anbieten. Um diesen Anforderungen auch 100-prozentig Rechnung zu tragen, soll eine feste Niederlassung in Deutschland im Laufe des nächsten Jahres folgen. So lange werden die Kunden durch deutschsprachige Vertriebsmitarbeiter vom europäischen Headquarter in High Wycombe bei London betreut. Unterstützt wird Aegis dabei durch ein autorisiertes Netz an Distributoren. Diese Partner vertreiben die Software und übernehmen in vielen Fällen auch den Support. Derzeit ist Walls dabei, das Personal für die neue Niederlassung zu rekrutieren. Momentan kommen etwa 20 Prozent des Umsatzes aus Europa und 10 Prozent aus Asien. Den Löwenanteil von 70 Prozent erwirtschaftet die Software-Schmiede aber nach wie vor in den USA. »Wir wollen in Europa und Asien deutlich wachsen«, bekräftigt Walls sein Ziel. Besonders im EMS-Sektor sieht Walls noch viel Bedarf für sein MOS. Mittelfristig soll sich das Verhältnis OEMs zu EMS auf 50:50 einpendeln.

Ein Standard-System für alle Branchen?

In der Elektronikfertigung Fuß fassen möchte auch der MES-Hersteller MPDV: Das Unternehmen zählt mit 700 Installationen zwar industrieweit zu den führenden MES-Playern, die Frage nach bereits erfolgten Installationen im Elektronikfertigungsbereich lässt MPDV allerdings unbeantwortet. Fakt ist: Einen besonderen Fokus oder ein dediziertes Produkt für die Elektronikfertigung bietet MPDV zwar nicht. Nach Ansicht von Kletti ist das aber auch nicht erforderlich: »Im Prinzip ist es natürlich richtig, dass jede Branche ihre Spezialitäten hat. Warum sollte nicht die Elektronik-Branche ein spezielles MES benötigen. Unsere Erfahrung ist allerdings, dass im MES-Prozess, egal in welchen Branchen, soviel Standardpotenzial enthalten ist, dass es wenig Sinn machen würde, allein für diese Besonderheiten ein separates System zu kreieren. Unsere Strategie besteht demzufolge auch darin, einen Standard so zu gestalten, dass er entweder durch Parametrierung oder durch einfache Modifikation auf viele Betriebsfälle einfach anzupassen ist.«


  1. MES: Wer füllt die "Kratzer-Lücke"?
  2. Was muss ein MES-System für die Elektronikfertigung können?
  3. Die Story von den hohen Kosten - nur ein Märchen?

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