Interview mit der Firma Ihlemann AG

Elektronik-Produktion komplett neu organisiert

29. Oktober 2013, 13:25 Uhr | Martin Ortgies
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Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Orientierung an einen tagtäglichen Verbesserungszyklus

Elektronik: Der Vorteil dieser Organisationsform ist damit aber noch nicht ersichtlich...

Bernd Richter: Wie gesagt, das Board wird noch in der Fertigungszelle getestet. Tritt jetzt in der Funktionsprüfung ein Fehler auf, sind seit Produktionsbeginn erst wenige Minuten vergangen. Der Fehler kann sofort untersucht und korrigiert werden, ohne dass ein komplettes Los mit Hunderten fehlerhafter Boards auf Halde produziert wird.

Elektronik: Sie sprechen von lernender Organisation und täglichen Verbesserungsroutinen. Das betriebliche Vorschlagswesen ist aber doch nichts Neues?

Bernd Richter: Die neue Fertigungsorganisation orientiert sich im Unterschied zum traditionellen Vorschlagswesen oder punktuellen Verbesserungs-Workshops an einem nun tagtäglichen Verbesserungszyklus. Dieser Ansatz basiert darauf, Veränderungen systematisch und mit festen organisatorischen Routinen zu bewirken. Das ist auch bekannt als Verbesserungs-Kata. Anstelle weniger großer Verbesserungsprojekte mit wenigen Akteuren werden mit möglichst vielen Beteiligten sprichwörtlich jeden Tag viele kleine Verbesserungsschritte angestrebt.

Elektronik: Wie erreichen Sie die Beteiligung der Mitarbeiter? Im betrieblichen Vorschlagswesen läuft das oft nicht so gut.

Bernd Richter: Damit diese kleinen und kontinuierlichen Schritte für die Mitarbeiter zur erfolgreichen Routine werden, setzt Ihlemann in der Fertigung zehn sogenannte Prozessbeobachter ein. In der Literatur findet man dafür auch den Begriff „Hancho“. Die Prozessbeobachter sind der eigentliche Motor der neuen Organisation. Sie sind aus der normalen Fertigungsmannschaft rekrutiert und begleiten die Mitarbeiter in den Fertigungszellen als Helfer und organisieren die Verbesserungsprozesse.

Elektronik: Sind denn normale Mitarbeiter aus der Fertigungsmannschaft für solche anspruchsvollen Aufgaben ausreichend qualifiziert?

Bernd Richter: Die Prozessbeobachter werden bei uns ausgebildet und laufend von einem Coach betreut. Durch ihren genauen Einblick in die Produktionsabläufe erkennen sie Probleme viel schneller, als dies die traditionellen Führungskräfte früher gekonnt hätten. Sie beobachten die Prozesse, erkennen Fehler oder Hindernisse, analysieren diese und stellen sie ab. Dabei wenden sie die Verbesserungs-Kata an und erreichen mittels dieser faktisch wissenschaftlichen Vorgehensweise in dieser Methode eine tägliche Routine.

Elektronik: Können Sie uns ein Beispiel für die Arbeitsweise dieser Verbesserungs-Kata geben?

Bernd Richter: Die Montage einer Baugruppe ist ein Beispiel. Bei der Montage musste ein Spannungsregler auf einen Kühlkörper geschraubt werden. Das war etwas umständlich und wurde deshalb außerhalb der Fertigungszelle vorbereitet und als fertig montierte Einheit an die Linie geliefert. Dabei stellte sich heraus, dass die Pins des Spannungsreglers wiederholt verbogen waren. Das umständliche Handling und die ständigen Fehler wurden als Hemmnis aufgegriffen und mit der Verbesserungs-Kata beseitigt. Dazu wurden von der Prozessbeobachterin und den Mitarbeitern zunächst die Ursachen der verbogenen Pins untersucht und mit einer Haltevorrichtung eine erste Idee für eine bessere Vorgehensweise entwickelt. Diese Idee war schon besser, aber noch nicht gut. Es folgten weitere kleine Verbesserungsschritte. Diese wurden jedes Mal bewertet und mit einer weiteren Verbesserung neu ausprobiert, bis eine zufriedenstellende Lösung gefunden war.

Der Coaching-Zyklus wiederholt sich ein- oder mehrmals täglich und soll ganz bewusst die kleinen Verbesserungsschritte begleiten. Dabei unterstützt der Coach den Prozessbeobachter, neue Lösungen systematisch und experimentell zu entwickeln
Bild 3. Der Coaching-Zyklus wiederholt sich ein- oder mehrmals täglich und soll ganz bewusst die kleinen Verbesserungsschritte begleiten. Dabei unterstützt der Coach den Prozessbeobachter, neue Lösungen systematisch und experimentell zu entwickeln.
© Martin Ortgies

Elektronik: Wie lange hat dieser Verbesserungsprozess gedauert?

Bernd Richter: Dieser Verbesserungs-Zyklus dauerte zwei Wochen, bis die selbst erdachte Haltevorrichtung so funktionierte wie erhofft. Für die beteiligten Mitarbeiter ist die Montage jetzt einfacher, sie ist in den Fertigungsablauf integriert, es werden keine Pins mehr verbogen und dieser Arbeitsschritt konnte von 190 auf 120 Sekunden verkürzt werden. Dadurch wurden Kosten eingespart und gleichzeitig mehr Ruhe in den Ablauf gebracht.

Elektronik: Wie haben die Mitarbeiter auf die neue Fertigungsorganisation reagiert?

Bernd Richter: Die neue Organisation war absolut kein Selbstläufer und es gab anfangs etliche Widerstände. Das neue Denken konnte sich erst mit dem kontinuierlichen Coaching durchsetzen und durch die erreichten Verbesserungen, wie bei der genannten Haltevorrichtung. Beim Coaching unterstützt der Coach den Prozessbeobachter dabei, neue Lösungen systematisch und experimentell zu entwickeln. Der Coaching-Zyklus wiederholt sich ein- oder mehrmals täglich und soll ganz bewusst die kleinen Verbesserungsschritte begleiten. Dabei liefert der Coach keine Lösungen oder Antworten auf das Problem. Das bleibt immer dem Mitarbeiter überlassen.

Elektronik: Welche Vorteile konnten Sie mit der neuen Organisation erreichen?

Bernd Richter: Mit dem reibungslosen Produktionsfluss wird die Durchlaufzeit wesentlich kürzer und die Produktivität erhöht sich. Wo früher manchmal mehr als fünf Wochen bis zur Auslieferung eines Loses vergingen, reicht jetzt je nach Auftrag ggf. eine Woche. Sind die Baugruppen bereits bekannt, ist die Fertigung eines Auftrags auch in Tagen möglich, ohne dass Hektik ausbricht und andere Aufträge dafür zurückgestellt werden müssen. Mit dem Fluss-Prinzip erhöht sich auch die Flexibilität für kurzfristige Änderungen oder variable Losgrößen. Zur höheren Flexibilität trägt bei, dass die Rüstzeiten in der Fertigungszelle von 45 Minuten auf durchschnittlich 10 Minuten verkürzt werden konnten. Damit lassen sich jetzt sowohl kleine als auch große Losgrößen umsetzen, ohne dass deshalb erhebliche Mehrkosten entstehen. Für den Kunden kann jetzt viel einfacher eine Produktion nach Bedarf realisiert werden.

Elektronik: Was verstehen Sie unter Produktion nach Bedarf?

Bernd Richter: Die Auslieferung einer Baugruppe muss nicht auf die Fertigstellung eines ganzen Loses warten. Erste Baugruppen können bereits nach wenigen Stunden auf den Weg zum Kunden sein. Produkt- oder Layout-Änderungen fließen jetzt schneller in die Produktion ein, lassen sich sicherer umsetzen und Nacharbeiten werden auf ein Minimum reduziert. Des Weiteren gehört zu den besonderen Vorteilen der neuen Produktionsorganisation, dass die Stückzahlen eines Auftrags einfacher skalierbar sind. Die Produktionskapazität lässt sich durch die Anzahl der eingesetzten Mitarbeiter in einer Fertigungszelle je nach Bedarf anpassen. Hier beweist sich die in vielen Routineprozessen erworbene Fähigkeit und Erfahrung, alle Arbeitsschritte in einer Fertigungszelle auch bei der Veränderung der Mitarbeiterzahl schnell neu abzustimmen und verzahnen zu können. Die Produktionskapazität kann bei Bedarf und Verfügbarkeit der Ressourcen innerhalb von Minuten verdoppelt werden.


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