Interview Prof. Dr. Thomas Klindt

»Normenkonformität bedeutet nicht Rechtskonformität!«

8. Juli 2013, 9:56 Uhr | Andrea Gillhuber
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Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Haftung im Normendschungel

Ist ein Entwickler auch persönlich haftbar?
Das ist - verzeihen Sie mir das pointierte Wort - eine üble Frage. Denn dazu gibt es keine einfachen Antworten. Haftungsrechtlich im Sinne des finanziellen Produkthaftungsrechts ist der Entwickler nicht interessant; die Produkthaftung wird sich aus Rechtsgründen wie auch aus kaufmännischen Gründen nur gegen das finanzstarke Unternehmen selbst richten. Ob ein Entwickler strafrechtlich haftbar ist, hängt von so vielen Umständen ab, dass man es in einem Interview kaum beschreiben kann. In dem Ausbildungsstand, dem Organigramm, den Stellenplatzbeschreibungen und dem Aufgabenzuschnitt zählen hierzu auch Art und Entstehung eines etwaigen Fehlers, der überhaupt zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen führen kann. Merken kann man sich aber, dass selbstverständlich auch ein Ingenieur für einen Fehler, dessen spätere Eskalation zu Gesundheitsschäden geführt hat, nicht aus der Schusslinie sein kann.

Ein Systemhersteller hat meist mehrere Zulieferer von sicherheitskritischen Komponenten. Wie werden hier die Haftungsbereiche definiert?
Prof. Dr. Klindt: Die ineinandergreifenden Zulieferer sicherheitstechnischer Komponenten sind eine echte Herausforderung in der Veredelungsstufe. Selbst Zulieferer haben übrigens in ihrer eigenen Supply Chain dieses Problem. Hier ist Vorsicht vor allzu trivialen Antworten geboten. In jedem Fall bedarf es einer sauberen technischen und vertragsrechtlichen Spezifikations-Definition, die möglichst wenig Spielräume für Interpretationen lässt. Es bedarf außerdem einer vernünftigen technischen Erprobung, gerade auch der Interdependenzen der Teile diverser Zulieferer, die im Zweifel nichts voneinander wissen und nicht wissen können. Für das Gesamtprodukt „nach außen“ ist ohnehin der Hersteller verantwortlich, der allenfalls im Regresswege versuchen kann, etwaige Schäden je nach Verursachungsbeitrag in seiner Supply Chain wiederzubekommen. Das ist oft eine sehr komplexe und bei internationalen Zuliefererverträgen auch juristisch sehr verfahrene Situation.

Was ist der Unterschied zwischen Produkt- und Produzentenhaftung?
Prof. Dr. Klindt: Ich traue mich zu sagen, dass ich diesen Unterschied für Ihre Leser für nicht relevant halte. Die Produkthaftung ist sprachlich der bessere Begriff für den Regelungspreis, der auf die europäische Produkthaftungsgesetzgebung aus 1990 zurückgeht, während man in Deutschland mit der Produzentenhaftung das Richterrecht meint, was sich seit 1900 zum immer schon vorhandenen § 823 BGB entwickelt hat. Es gibt hier Unterschiede, die insbesondere für Juristen und für Gerichtsprozesse relevant werden. Für die wesentlichen Erkenntnisse zur Risiko-minimierung spielt dies aber keine Rolle.

Verändert eine fehlerhafte Dokumentation in der Produkt- bzw. System-entwicklung die Haftungszuständigkeit?
Prof. Dr. Klindt: Eine fehlerhafte Dokumentation kann eigentlich die Haftungszuständigkeit nicht verändern, wohl aber ein fehlerhaftes Dokument! Ich meine damit, dass als Dokument etwa eine Spezifikation, eine Leistungsvorgabe, eine Explosionszeichnung etc. anzusehen ist, deren Fehler natürlich späteren Entwicklungsstufen nicht mehr angelastet werden kann. Unter Dokumentation verstehe ich dagegen das schriftliche Fixieren vorhandener Schritte - wenn das ausbleibt, mag dies beweisrechtlich ärgerlich sein und zu einer Rückenlage unter Beweisgesichtspunkten führen. Die theoretische Haftungszuständigkeit hat sich dabei ja nicht verändert.

In Normen ist ab und an vom „Stand der Wissenschaft und Technik“ zu lesen. Wie wird diese Begrifflichkeit rechtlich eingeordnet?
Prof. Dr. Klindt: Der Stand von Wissenschaft und Technik ist im Produkthaftungsrecht der maßgebliche Stand. Das steht für das Produkthaftungsgesetz so geschrieben und ist beim Produzentenhaftungsrecht ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Im BMW-Airbag-Fall hat der Bundesgerichtshof diesen Begriff wie folgt definiert:

„Erforderlich sind die Sicherungsmaßnahmen, die nach dem im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts vorhandenen neusten Stand der Wissenschaft und Technik konstruktiv möglich sind und als geeignet und genügend erscheinen, um Schäden zu verhindern.

Dabei darf der insoweit maßgebliche Stand der Wissenschaft und Technik nicht mit Branchenüblichkeit gleichgesetzt werden; die in der jeweiligen Branche tatsächlich praktizierten Sicherheitsvorkehrungen können durchaus hinter der technischen Entwicklung und damit hinter den rechtlich gebotenen Maßnahmen zurückbleiben.

Die Möglichkeit der Gefahrvermeidung ist gegeben, wenn nach gesichertem Fachwissen der einschlägigen Fachkreise praktisch einsatzfähige Lösungen zur Verfügung stehen. Hiervon kann grundsätzlich erst dann ausgegangen werden, wenn eine sicherheitstechnisch überlegene Alternativkonstruktion zum Serieneinsatz reif ist.

Der Hersteller ist dagegen nicht dazu verpflichtet, solche Sicherheitskonzepte umzusetzen, die bisher nur ‚auf dem Reißbrett erarbeitet‘ oder noch in der Erprobung befindlich sind. “Wie sichert sich ein Unternehmen (oder auch ein Entwickler) am besten gegen eventuelle Haftungsansprüche ab? Gibt es Versicherungen, die hier greifen?
Prof. Dr. Klindt:
Die Absicherung eines Unternehmens kann denklogisch in zwei Richtungen erfolgen: Entweder vermindert man ein Risiko oder man verlagert ein Risiko. Die Verminderung des Risikos ist ein unternehmensinterner Prozess des Risk Management. Die Verlagerung dagegen ist entweder durch Verträge auf Zulieferer oder durch Verträge auf Versicherer möglich, dann allerdings zu deren Spielregeln. Die klassische Produkthaftpflichtversicherung versichert dabei konkrete Schadensfälle im In- und Ausland (meistens ohne USA/Kanada), während die - seltenere - Rückrufkostenversicherung auch die Vermögensaufwendungen für den Fall eines Rückrufs mitumfasst. Im Zweifel ist den Unternehmen anzuraten, sich hier mit ihrer Industrieversicherung oder ihren Industriemaklern zusammenzusetzen. Einzelne Entwickler sind dagegen (außer bei grob fahrlässigen oder absichtlichen Fehlern) schon durch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung in ihrem Status als Angestellte geschützt. Der Arbeitgeber haftet für sie.

Prof. Dr. Klindt:

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