Schutzgas konterkariert Energiewende

Verbot auch in Schaltanlagen überfällig

2. Oktober 2020, 8:29 Uhr | Heinz Arnold
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Fortsetzung des Artikels von Teil 1

SF6-freie Anlagen kommen nicht teurer – im Gegenteil

Immer wieder wird das Argument vorgebracht, die SF6-freien Mittelspannungs-Schaltanlagen seien zu teuer und ihre Bauform wäre zu groß. Das hält Stefan Rohrmoser für vorgeschoben.

Als Beispiel nennt er Kieswerke, die Mittelspannungs-Schaltanlagen in relativ großem Umfang einsetzen. Kieswerke zählen rechtlich zu den Bergwerken, müssen also die dort geltenden Regulierungen einhalten. In Bergwerken ist SF6 schon lange verboten, deshalb sind auch Kieswerke gezwungen, SF6-freie Anlagen einzusetzen. »Dort ist der Platz meist sehr beschränkt und Kieswerke müssen ausgesprochen kostenoptimiert arbeiten, um Geld verdienen zu können«, erklärt Rohrmoser. »Dennoch kommen sie mit den SF6-freien Schaltanlagen seit langer Zeit gut zurecht.«

Zwar gibt er zu, dass SF6-freie Anlagen in der Anschaffung teurer kommen als die Typen, die SF6 zur Isolation verwenden. Betrachtet man aber die Total Cost of Ownership, also die Kosten über den Betrieb einschließlich Wartung bis hin zur Entsorgung, so ergeben sich nach seinen Worten sogar Vorteile: »Aus Kostensicht besteht für die Betreiber keinerlei Grund, weiter auf SF6 zu setzen.«

Eaton hat sich jedenfalls schon seit Jahrzehnten auf die Fahnen geschrieben, nur SF6-freie Schaltanlagen zu entwickeln und anzubieten. Weil Eaton schon seit den 1960er-Jahren auf die Entwicklung und Herstellung von SF6-freien Mittelspannungs-Schaltanlagen setzt, sieht sich das Unternehmen als Pionier auf diesem Gebiet. 2002 hatte Eaton die Mittelspannungs-Schaltanlagen vom Typ Xiria vorgestellt, die mit Vakuumtechnik arbeiten. Schließlich hatte Eaton im Jahr 2003 über den Kauf der Delta PLC die niederländische Holec Group erworben, die im eigenen Land der Marktführer Mittelspannungs-Schaltanlagen ist. 2020 konnte Eaton das millionste luftisolierte Schaltfeld ausliefern.

Verschiedene Wege zur SF6-freien Isolierung

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Schaltanlagen ohne Hilfe von SF6 zu isolieren. Daran arbeitet nicht nur Eaton, auch weitere Firmen, darunter ABB, Schneider Electric, Siemens und das Startup Nuventura bieten derartige Schaltanlagen an. Es handelt sich also nicht um eine exotische Technik. Im Gegenteil: An sich sei es technisch keine allzu große Schwierigkeit, Mittelspannungsanlagen ohne SF6 zu bauen, erklärt Rohrmoser. In diesem Bereich setzt Eaton auf luftisolierte Schaltanlagen.

Auf einen weiteren Aspekt macht Udo Hoffmann, Vice President Sales Business & Infrastructure von Schneider Electric aufmerksam:  »Wenn wir heute forschen, müssen wir neue Techniken dahingehend prüfen, ob sie klimaverträglich sind und einen Mehrwert darstellen. Wir müssen sie digital vernetzen, um sie auch für ihre zukünftigen Aufgaben in Smart Cities auszustatten. Es gilt also, nicht nur, SF6 zu vermeiden, sondern Mittelspannungsanlagen auch als Teil eines größeren Ganzen wahrzunehmen.« Derzeit demonstriert Schneider Electric die Technik in mehreren Pilotprojekten.

Zwar fallen luftisolierten Anlagen gegenüber den SF6-Anlagen oft geringfügig größer aus, »das hat bisher in der Praxis aber keine Rolle gespielt, selbst beim Einsatz in Tunnelbohrmaschinen nicht«, so Rohrmoser. Deshalb gebe es auch keinen Innovationsdruck, die Anlagen unbedingt kleiner zu machen. Viel wichtiger sei es, unter den Bedingungen der Energiewende die Verteilnetze besser als bisher überwachen zu können und die Flexibilität zu erhöhen, um immer genau zu wissen, wo gerade Energie benötigt wird. Die Schaltanlagen auf diese Aufgabe hin auszulegen sei also die wesentliche Aufgabe.

Weil unter den Bedingungen der Energiewende der Bedarf an Mittelspannungs-Schaltanlagen stark wächst, wäre es umso wichtiger, nicht durch die Hintertür den Grundgedanken zu konterkarieren und über die wachsende Zahl an Schaltanlagen erst recht klimaschädliche Stoffe wie SF6 vermehrt in die Umwelt zu bringen. »Ein SF6-Verbot wäre schnell und einfach umzusetzen, alles spricht dafür und nichts dagegen, es sofort zu tun. Denn es kann keine erfolgreiche Energiewende mit dem gleichzeitigen Einsatz von SF6 geben«, so sein Fazit. Jetzt komme es also darauf an, ob die EU-Kommission im Juli 2021 entscheidet, ob die Duldung des SF6-Einsatzes in Schaltanalgen fortgeführt wird.

»Der Übergang zu SF6-freien Systemen hängt sowohl von den Regulierungen ab als auch von den Herstellern und Anwendern: Sie alle müssen für den Technologiewechsel bereit sein. Wir arbeiten schon seit über zehn Jahren an der Entwicklung SF6-freier Mittelspannungs-Schaltanlagen. Die „AirPlus“-Typen kamen 2015 auf den Markt«, sagt Harikishan Narayanan, Global Product Group Manager der Distribution Solutions Division von ABB. Die Anlagen vom Typ Airplus abeiten mit einem Anteil von 85 Prozent Luft und Fluoroketon und kommen auf ein Global Warming Potential (GWP) von 1. Diese Anlagen arbeiteten bereits bei großen Kunden von ABB rund um die Welt und seien laut Narayanan auf sehr gute Resonanz gestoßen. Dem graduellen Ausphasen von SF6 zu einem definierten Termin stünde nun nichts mehr im Weg: »Weil jetzt nachhaltige Alternativen für SF6 zur Verfügung stehen, wird die EU-Direktive die Kunden in die Lage versetzen, zu planen und den Übergang zu klimafreundlichen Schaltanlagen zu vollziehen.«

Ein Start-up setzt auf neu konzipierte SF6-freie Anlagen

Offenbar ging Manjunath Ramesh, der sich als Elektroingenieur über zehn Jahre mit Mittelspannungs-Schaltanlagen und Umwelttechnik bei großen Herstellern beschäftigt hatte, die Entwicklung dort nicht schnell genug. Seine Idee: Nicht nur umweltfreundlichere, sondern auch leistungsfähigere SF6-freie Schaltanlagen von Grund auf neu zu entwickeln. Zusammen mit Dr. Fabian Lemke und Nikolaus Thomale gründete er im Juli 2017 Nuventura, die sich darauf spezialisiert hat, solche Schaltanlagen zu konzipieren. Einer der Investoren ist übriges EON.
Inzwischen hat Nuventura eine getestete SF6-freie Schaltanlage auf Basis von trockener Luft (80 Prozent Stickstoff, 20 Prozent Sauerstoff) entwickelt, die aufgrund einer patentierten Konstruktion nicht größer ist als vergleichbare Anlagen mit SF6. »Keine andere SF6-freie Schaltanlage mit trockener Luft erreicht derzeit diese hohe Spannung«, erklärt Manjunath Ramesh.

Damit entfallen die spezifischen aufwändigen Wartungsarbeiten, die SF6 in den Anlagen erforderlich macht. »Zudem können wir auf Wunsch unsere Sensoren einbauen, die es ermöglichen, Fehler vorherzusagen und die Lebensdauer der Anlagen zu verlängern«, so Ramesh. Die Anwender bekämen also alle Vorteile der SF6-Anlagen, sparten sich aber die Wartungskosten, die mit SF6 einhergehen, und entsprächen schon jetzt den Regulierungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit künftig kommen werden. Zudem erhielten sie eine bessere Performance.

Das Geschäftsmodell des Unternehmens, das derzeit 15 Mitarbeiter beschäftigt, besteht darin, Lizenzen für die Fertigung an Schaltanlagenhersteller zu verkaufen. Ähnlich wie Thoralf Bohn verspürt auch Ramesh, dass inzwischen Bewegung in den Markt kommt: »2017 herrschte noch viel Skepsis, jetzt hat sich die Situation geändert.« Marktforscher rechnen damit, dass der Markt für Mittelspannungs-Schaltanlagen bis 2024 auf 34,3 Mrd. Euro wächst, was durchschnittlich einem Plus von 8,8 Prozent pro Jahr seit 2019 entspricht. Zu tun gibt es also genug.

Flexible, SF6-freie Schaltanlagen – ein wichtiges Element im Smart Grid

Das sieht auch Udo Hoffmann von Schneider Electric so. Die Forderung nach umweltfreundlicher Technik und flexibler Energieverteilung kombiniert Schneider Electric in seiner neuen, SF6-freien 24-kV-Schaltanlage. Auch Schneider Electric setzt auf trockene Luft als Isolationsmedium. Westnetz hat gerade im Rahmen eines Pilotprojektes das bestehende Schaltfeld (mit Anlagen vom Typ GHA von Schneider) um ein Schaltfeld mit den neuen SF-6-freien Typen im laufenden Betrieb erweitert. Sie sind kaum größer als die herkömmlichen; zusätzlich kann Schneider sie mit Sensoren ausstatten, die die Temperatur, die Luftfeuchte und weitere Umgebungsbedingungen in Echtzeit über­wa­chen. Damit werden sie zu einem wichtigen Element in Smart Grids. »Im Umspannwerk in Bedburg demonstrieren wir die Leistungsfähigkeit der kompakten Schaltanlagen und sammeln mit Westnetz wichtige Betriebserfahrungen«, sagt Udo Hoffmann.


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