Ärzteschaft fordert gesundheitspolitisches Sofortprogramm
»Das Gesundheitswesen in Deutschland hat sich in der Corona-Pandemie bewährt. Die vergangenen eineinhalb Jahre haben aber auch strukturellen Reformbedarf offengelegt. Die Gesundheitspolitik muss deshalb im Koalitionsvertrag in besonderem Maße gewichtet werden. Sie muss ein zentrales Handlungsfeld der neuen Bundesregierung werden und das Gesundheitswesen zukunfts- und krisenfest ausgestalten.« Das sagte Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt zum Auftakt des 125. Deutschen Ärztetages, der vom 1. November bis 2. November 2021 in Berlin stattfindet.
Die Bundesärztekammer hat dazu einen Forderungskatalog an ein gesundheitspolitisches Sofortprogramm der neuen Bundesregierung erstellt, der Grundlage der gesundheits- und sozialpolitischen Beratungen des Ärztetages ist. Reinhardt hob zur Eröffnung des Ärztetages den besonderen Reformbedarf im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) hervor. Er forderte, den von Bund und Ländern geschlossenen Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst in ein Gesamtkonzept für eine Strukturreform des ÖGD einzubetten. »Meldewege sind zu digitalisieren, einheitliche technische Schnittstellen sind zu etablieren und vor allem sind Anreize für Ärztinnen und Ärzte zu schaffen, im Öffentlichen Gesundheitsdienst tätig zu werden. Eine tariflich gesicherte, arztspezifische Vergütung aller im ÖGD tätigen Ärztinnen und Ärzte ist dafür eine Grundvoraussetzung«, sagte der BÄK-Präsident.
Sorge bereitet der Ärzteschaft die zunehmende Kommerzialisierung in der ambulanten und stationären Versorgung. »Ärztinnen und Ärzte wollen keine Entscheidungen treffen und auch keine medizinischen Maßnahmen durchführen, die aufgrund wirtschaftlicher Zielvorgaben und Überlegungen erfolgen und dabei das Patientenwohl gefährden«, stellte Reinhardt klar. Die Politik sei gefordert, diese ärztliche Grundhaltung mit konkreten gesetzgeberischen Gegenmaßnahmen zu unterstützen. So müsse im ambulanten fach- und hausärztlichen Bereich der Einfluss von sogenannten Private-Equity-Gesellschaften auf die Versorgung begrenzt werden. Im stationären Bereich müssten Ärztinnen und Ärzte vor ökonomisch motivierten Einflussnahmen der kaufmännischen Geschäftsführung der Kliniken geschützt werden. Erforderlich sei dafür unter anderem eine Reform des starren, letztlich auf Wettbewerb ausgerichteten Vergütungssystems über Fallpauschalen.
Eine solche Vergütungsreform müsse außerdem von einer stärker an den regionalen Bedarf angepassten Neuorganisation der Krankenhausplanung einhergehen. In diesem Zusammenhang bekräftigte Reinhardt seine Forderung an die Bundesländer, endlich ihren Investitionsverpflichtungen an die Krankenhäuser vollumfänglich nachzukommen. Wenn dies weiterhin nicht geschähe, müsse über eine geeignete Kofinanzierung des Bundes bei den Investitionskosten nachgedacht werden.
Mehr Patientenorientierung sei auch bei dem digitalen Ausbau des Gesundheitswesens notwendig. Reinhardt forderte ein einjähriges Moratorium zur inhaltlichen und strukturellen Neuausrichtung der Telematik-Betreibergesellschaft gematik. »Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Digitalisierung muss Ärztinnen und Ärzte im Versorgungsalltag praktikabel unterstützen. Sie muss sicher und für alle Patientengruppen nutzbar sein, also auch für ältere und multimorbide Menschen. Um dies zu gewährleisten, muss die Versorgungskompetenz der Gesellschafter stärker in der gematik gewichtet werden«, forderte Reinhardt.
Auf dem 125. Deutschen Ärztetag wurde zudem ein neuer Vize-Präsident der Bundesärztekammer gewählt. Dr. Günther Matheis konnte die Wahl mit 157 von 222 gültigen Stimmen für sich entscheiden und folgt damit auf Dr. Heidrun Gitter, die im vergangenen März nach schwerer Krankheit verstorben ist.
»Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Ärztinnen und Ärzte aus Klinik, Praxis und anderen Bereichen des Gesundheitswesens nur gemeinsam stark sind. Gemeinsam haben wir in den vergangenen eineinhalb Jahren gegen die Pandemie gekämpft – und tun es noch immer jeden Tag«, sagte Matheis in seiner Vorstellungsrede. Er betonte, während seiner Amtszeit Themen für die gesamte Ärzteschaft landes- und bundesweit in den Blick nehmen und sich für ein zukunftsfähiges und krisenfestes Gesundheitswesen einsetzen zu wollen.
Der Facharzt für Thoraxchirurgie arbeitet seit 2006 als Sektionsleiter Thoraxchirurgie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier. Matheis ist seit 2016 Präsident der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz und gehört seitdem dem Vorstand der Bundesärztekammer an. Dort engagiert er sich unter anderem als Vorsitzender der Ständigen Konferenz »Fortbildung« sowie als Beauftragter der Bundesärztekammer für die bundesweiten Transplantationsgremien und als Beauftragter für Menschen mit Behinderung. (me)