Ich frage mich, ob die EU Ihren Gedanken folgt und melde aus dem Bauch heraus Zweifel an…
(lacht) Ich hatte vor einigen Wochen eine Podiumsdiskussion mit einem hochrangigen Beamten der EU-Kommission…
…dessen Namen Sie uns natürlich nicht verraten möchten?
Richtig! (lacht) Er stellte die These auf, dass sich Ingenieure noch nie um die moralischen und ethischen Gesichtspunkte ihrer Arbeit gekümmert hätten und dass der europäische Gesetzgeber dafür zu sorgen habe, dass Algorithmen auch nach ethischen Gesichtspunkten entwickelt werden. Mir fehlt das Verständnis dafür, dass der Gesetzgeber da so im Detail reingehen will, zumal ja nicht mal Experten überprüfen können, was tatsächlich mit den Daten passiert. Mit einem Regulativ über Standards und Normen sollten wir dafür sorgen, dass Sicherheit am Stand der Technik ausgerichtet wird – mit den notwendigen Freiheiten.
Frau von der Leyen hatte ja angekündigt, sie werde »Rechtsvorschriften« mit einem Konzept für die »menschlichen und ethischen Aspekte der künstlichen Intelligenz« vorschlagen, und zwar in den ersten 100 Tagen ihrer EU-Präsidentschaft. Das ist eine schon arg kurze Frist für Sie und Ihre Kollegen, da zu intervenieren, richtig?
Zum Glück liegt der Fokus der EU-Kommission gerade auf Nachhaltigkeit, so dass diese 100 Tage etwas aufgeweicht wurden. Ich habe in der Fraktion auch der Kanzlerin gesagt, dass wir da aufpassen müssen. Meine Idee ist, dass das, was wir in der nationalen Steuerungsgruppe ausarbeiten, auf nationaler Ebene im Sommer während der deutschen Ratspräsidentschaft auf die europäische Ebene übertragen wird.
Also von der DIN zur ISO….
Ja, aber ohne unnötig neue Strukturen zu schaffen. Da werbe ich in allen Ministerien, dass wir das so übernehmen. Dann haben wir kein Extrem wie in den USA oder in China, sondern ein atmendes Gerüst, das mit Qualität überzeugt, aber auch Freiräume für Entwicklungen ermöglicht.
In Taiwan wird KI schon sehr erfolgreich zur Diagnose und Therapie wie in der Onkologie oder Intensivmedizin eingesetzt [10]. In Europa gibt es die Herausforderung der Zertifizierung für »Black Boxes«. In welchem Zeitraum sehen Sie hier die notwendigen Anpassungen?
Eines der priorisierten Themen neben Industrie 4.0 und Mobilität ist ganz klar Healthcare. Ziel in der Steuerungsgruppe ist, Mitte 2020 erste Regeln aufzustellen. Da geht es natürlich darum, wie messe ich was, welche Daten müssen eingestellt werden, Risikoeinstufungen usw.
Ich lese immer wieder über ethische Bedenken bezüglich KI. Da werden Beispiele konstruiert, dass ein autonom fahrendes Auto vermeintlich entscheiden soll bzw. muss, einen Fahrradfahrer umzufahren oder in eine Gruppe Fußgänger hineinzufahren. Das ist doch rein technisch betrachtet einfach nur falsch, richtig?
Sie haben Recht, ich habe ja im Bereich der Fahrerassistenzsysteme gearbeitet und kann Ihnen sagen, dass sich ein System niemals diese Frage stellen wird, da die Entscheidungsbäume ganz anders aufgebaut sind. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Bei dem Uber-Fahrzeug, das einen Radfahrer umgefahren hat, fehlte einerseits die Redundanz im System und andererseits die Daten für ein zielgerichtetes Training. In den eher fahrradarmen USA wurde die arme Radfahrerin einfach als Hintergrundrauschen und nicht als eigenständiges Objekt wahrgenommen und ist letztendlich deswegen überfahren worden.
Das ist doch ein tolles Beispiel, warum man synthetische Daten braucht….
Richtig, denn nicht alle denkbaren Beispiele kommen ja in der Realität vor. Man muss ja auch Extreme abprüfen können, um die Sicherheit reinzubekommen. Es geht nicht nur um die Datenmenge, sondern die Datenqualität.
Im MIT Technology Review stand zu lesen, dass ein neuronales Netzwerk in der Trainingsphase die fünffache CO2-Emission eines PKW über dessen gesamten Lebenszyklus generieren kann [11] oder eine Emission analog zu 300 Hin- und Rückflügen zwischen New York und San Francisco. Ist es nicht dringend erforderlich, dass der Fokus noch viel mehr auf energieeffiziente KI-Algorithmen gelegt wird?
Das Thema Energieeffizienz bei KI ist ein Parameter, der in der politischen Debatte nicht an erster Stelle liegt, aber bereits bedacht wird. Manche denken, dass alle energiepolitischen Probleme beispielsweise zu Smart Cities mit KI gelöst werden können. Aber das wird überschätzt, denn wir können mit KI ja die Physik nicht überwinden. Sie generieren Gewinne beim Wirkungsgrad, andererseits benötigen Sie Energie im Rechenzentrum. So kommt es wieder zu einem Gleichgewicht. Das Regulativ im Wettbewerb wird die CO2-Bepreisung sein.
Hier kommt doch dann das Thema Datenmenge und -Qualität wieder zum Tragen…
Richtig, man muss sich da vorher Gedanken machen, für welche Anwendung man welche Daten braucht. Allein der Ansatz, möglichst viele Daten zu speichern, ist nicht zielführend.
Wenn man sich die von der Autoindustrie geforderten Zuwächse an Rechenleistung einerseits und die Fortschritte in der Mikroelektronik durch geschrumpfte Fertigungsgeometrien anschaut, muss man leider feststellen, dass der Energiebedarf weiter wachsen wird. Konterkariert man damit nicht alle funktionalen Fortschritte, zum Beispiel des Connected Car?
Diese Feststellung ist generell sicher nicht falsch.
Herr Altmaier hat ja mit Gaia-X eine europäische Cloud angekündigt [12]. Inwieweit müssen wir in Europa denn aus Ihrer Sicht unabhängig von Mikroelektronik-Zulieferungen aus den USA und/oder China werden? Herr Dr. Kegel als VDE-Präsident hat ja sehr dediziert Stellung genommen [13].
Wir müssen in der Lage sein, die Grundbausteine hierzulande herzustellen. Einerseits müssen wir wissen, was passiert, wir müssen Standards setzen und auch in der Lage sein, diese zu kontrollieren. Natürlich bin ich für Wettbewerb, aber den kann man nur darstellen, wenn man die Fertigungstiefe bis ganz unten abbilden kann. Insofern bin ich dafür, dass wir auch mit Unterstützung der Politik diese Fertigungstiefe bei uns sicherstellen können.
Wie soll denn das konkret aussehen?
Ich bin nicht dafür, dass der Staat eine Firma gründet, sondern Anreize setzt, die Entwicklung bei uns aufbauen zu können. Selbst Infineon ist ja nur in gewissen Bereichen in dieser Fertigungstiefe drin. Wir müssen eine Struktur auf deutscher und europäischer Ebene schaffen, Airbus lässt grüßen.
Eine Leading-Edge-Chipfabrik kostet mindestens 8 Mrd. Euro. Halten Sie das für realistisch?
Auf europäischer Ebene ist das machbar, wenn man es haben will. Ich kann so viel über Datenbanken sprechen wie ich will, wenn ich die Fertigungstiefe nicht habe, muss ich das zukaufen und weiß nicht, wo ein Einfallstor ist. Außerdem hinke ich immer hinterher, was den Stand der Technik angeht. Ich brauche Leute, die da in der Entwicklung vorneweg laufen.
Bei Airbus damals hatten Sie wenigstens die Experten. Wo sind die denn in der Hardware-Entwicklung?
Ja, in der Luftfahrt hatten wir damals die ganzen Firmen schon hier und mussten sie quasi nur zusammenführen. Jetzt brauchen wir noch einen Schritt mehr, nämlich die Expertise vor Ort hinzubekommen. Dass ist für mich eine Kernaufgabe und da sollten auf europäischer Ebene die KI-Kompetenzen zusammengeführt werden.
Halten Sie das für realistisch?
Peter Altmaier ist ja kein politisches Leichtgewicht. Er hatte von dem KI-Airbus gesprochen, er ist gut vernetzt und es sind einige dabei, die dahinterstehen beim Thema Fertigungstiefe. Dass wir da etwas Gutes erreichen werden, halte ich für möglich.
Bei der Grundrenten-Diskussion wurde ein Investitionsfond von 10 Mrd. Euro genannt….
Ja, da wurden wir in der Fraktion gefragt, was wir da mit hineinnehmen wollen, und da kann man natürlich auch mal so ein Thema berücksichtigen und auf europäischer Ebene unseren Anteil mit hineinrechnen.
Wie beurteilen Sie die Lobbyarbeit einschlägiger Verbände wie ZVEI, VDE und Bitkom im Vergleich zu anderen schlagkräftigen Verbänden wie denen der Pharma- oder Zigarettenindustrie? Sehen Sie da Verbesserungsbedarf?
Diese Verbände agieren sehr verschachtelt und vielschichtig. In der Pharmaindustrie hingegen gibt es eine gebündelte Interessensvertretung. Die von Ihnen genannten Verbände sind sehr gut in der fachlichen Diskussion, aber haben nicht die Schlagkraft wie andere. Durch die Vielzahl an kleinen Unternehmen verzetteln sie sich oft. Vielleicht fehlt auch der prägnante Fürsprecher. Nehmen Sie den VDA, der sich Persönlichkeiten sucht, die schon im politischen Umfeld bekannt sind und die Dinge nicht nur fachlich gut, sondern auch polarisierend darstellen können. So eine Kräftebündelung würde ich mir wünschen.
Braucht man auch etwas mehr Geld in der Hinterhand? Daran mangelt es zumindest in der Pharma- und Zigarettenindustrie wahrlich nicht…
(lacht) Generell schadet es nicht, sich vor einem parlamentarischen Abend auf eine klare Message zu einigen und ein bekanntes Zugpferd zu positionieren. Wenn zum Beispiel ein Friedrich Merz zum Thema Digitalisierung und Fertigungstiefe in Europa an Bord wäre, würden auch die Massenmedien berichten. Um in den von Ihnen eingangs genannten Talkshows zum Zug zu kommen, müssen Sie keine fachlichen Erklärungen vortragen, sondern einfach mal polarisieren und auch mal verbal Prügel einstecken.
Herr Steier, das war doch ein schönes Schlusswort, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!
[1] Warum viele Abgeordnete nicht in den Bundestag gehören: https://www.welt.de/wirtschaft/article168957073/Warum-viele-Abgeordnete-nicht-in-den-Bundestag-gehoeren.html
[2] Schülerunion Deutschlands: https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%BCler_Union_Deutschlands
[3] Robert Habeck: https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Habeck
[4] Digitalpakt Schule: https://de.wikipedia.org/wiki/Digitalpakt
[5] KI-Strategiepapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: https://uploads.strikinglycdn.com/files/66137277-3e7b-4aa0-9931-c6aabec58906/190904%20K%C3%BCnstl%20Intelligenz%20CDUCSU%20FV%20Beschluss.pdf
[6] Pressemeldung des VDE zu KI: https://www.vde.com/resource/blob/1915320/6d29f74b81b4858597c5fe47499d3a2c/grafik---die-wichtigsten-zahlen-data.jpg
[7] Wikipedia-Eintrag über Prof. Sami Haddadin: https://de.wikipedia.org/wiki/Sami_Haddadin
[8] Homepgae des deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz (DFKI): https://www.dfki.de/web/
[9] IDG-Studie zur KI: https://ki-marketing.com/idg-studie-kuenstliche-intelligenz/
[10] Einsatz von KI in taiwanischen Krankenhäusern: https://www.medical-design.news/news/technologischer-fortschritt-muss-auch-zum-einsatz-kommen.167253.html
[11] Energieeffiziente KI-Algorithmen benötigt: https://www.technologyreview.com/s/613630/training-a-single-ai-model-can-emit-as-much-carbon-as-five-cars-in-their-lifetimes/
[12] Das Gaia-X-Projekt: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Digitale-Welt/das-projekt-gaia-x.html
[13] Interview mit Dr. Gunther Kegel, Präsident des VDE: Elektronik 2020, Ausgabe 6, S. 38 ff.