Halbleiterindustrie

Chips sind knapp – trotz Vollauslastung der Produktion

30. August 2021, 6:00 Uhr | Harry Schubert
Christophe Bianchi, EMEA High Tech and Semiconductor Director bei Ansys: »Im Jahr 2020 lag die Auslastung der Halbleiterfabriken bei fast 90 %, was als Vollauslastung gilt.«
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Die aktuellen Lieferengpässe der Halbleiterhersteller betreffen überwiegend »ältere« Prozessknoten. Nicht nur weil Kapazitäten vorrangig in den fortschrittlichen Knoten ausgeweitet werden, erklärt Christophe Bianchi, EMEA High Tech and Semiconductor Director bei Ansys, im Interview.

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?   Welche Halbleiter und Prozessknoten sind aktuell am stärksten von den Lieferproblemen betroffen?

!   Christophe Bianchi: Die Versorgungskrise in der Halbleiterindustrie ist weniger dramatisch bei den fortschrittlichen Knoten (7-nm-, 5-nm- und sogar 3-nm-Prozesse), da diese typischerweise hochvolumigen, hochpreisigen Produkten entsprechen und Kunden daran gewöhnt sind, Bestände aufzubauen und Kapazitäten im Voraus zu reservieren. Damit ist dieses Segment kalkulierbarer und weniger anfällig für Schwankungen. Es ist auch ein Bereich, in dem führende Hersteller in den letzten zehn Jahren erheblich in Kapazitätserweiterungen investiert haben.

Mit einem erwarteten CAGR von 6 bis 7 % wurde jedoch nicht genügend Kapazität für die Mature Nodes (28 nm und mehr) hinzugefügt, die mehr als 50 % der weltweit installierten Kapazität ausmachen.

Diese Nodes werden in der Regel für diskrete Bauteile, Power-Management- und Stromversorgungseinheiten, Kommunikationsgeräte und Mikrocontroller verwendet. In diesem Bereich gibt es erhebliche Überschneidungen zwischen dem Automobil- und dem Unterhaltungselektroniksektor. Der Kapazitätsengpass hat der Automobilindustrie am meisten geschadet, da sie nicht die Flexibilität hat, einfach den Zulieferer zu wechseln – teilweise aufgrund strengerer und längerer Qualifizierungsprozesse – und nicht über genügend Lagerbestände verfügt, um die lange Vorlaufzeit für die Umverteilung/Erweiterung der Fertigungskapazität aufzufangen.

Die Kapazitätsauslastung in der Halbleiterindustrie war in den letzten zehn Jahren konstant hoch, bei 80 % oder höher. Im Jahr 2020 lag die Auslastung bei fast 90 %, was als Vollauslastung gilt – höhere Auslastungsraten führen in der Regel zu einer deutlichen Verlängerung der Vorlaufzeit. Für die nächsten 24 bis 36 Monate gehen die meisten Hersteller von Wafern davon aus, dass ihre Kapazitäten nahezu voll ausgelastet bleiben, wobei feste Aufträge bereits bis weit ins Jahr 2024 gebucht sind.

?   Warum trifft der Engpass die Automobilindustrie am stärksten?

Alle Indikatoren scheinen darin übereinzustimmen, dass sich die allgemeine Chip-Knappheit bis zum vierten Quartal dieses Jahres mildern wird.
Christophe Bianchi, EMEA High Tech and Semiconductor Director bei Ansys:
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!   Bianchi: Eine der vielen Folgen der Pandemie im Jahr 2020, war die sprunghaft angestiegene Nachfrage nach Unterhaltungselektronik, PCs und Kommunikationsgeräten. Diese erhöhte Nachfrage traf auf eine reduzierte Chip-Produktion, da die Industrie erwartet hatte, dass sich die Nachfrage stabil oder teilweise sogar etwas rückläufig entwickelt. Zudem gingen die Autoverkäufe drastisch zurück und die Halbleiternachfrage des Automobilsektors schrumpfte um etwa 15 %.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2020, als sich der Automobilsektor schneller als erwartet erholte, hatte die Halbleiterindustrie bereits alle Fertigungskapazitäten an andere Sektoren vergeben und konnte die Nachfrage des Automobilsektors nicht mehr decken.

Mit ihrer komplexen Lieferkette und den Just-in-Time-Fertigungsverfahren reagiert die Automobilindustrie besonders empfindlich auf Lieferengpässe. Obwohl sie nur 9 bis 10 % der weltweiten Chip-Nachfrage ausmacht, ist die Krise der Automobilindustrie ein sehr sensibles Thema für die amerikanischen und europäischen Verbraucher und Politiker, da dieser Sektor weltweit mehr als zehn Millionen Menschen beschäftigt.

Alle Indikatoren scheinen darin übereinzustimmen, dass sich die allgemeine Chip-Knappheit bis zum vierten Quartal dieses Jahres mildern wird. Doch einige Branchen, wie z.B. die Automobilindustrie, haben längere Lieferketten und für diese könnte es bis zum Jahr 2022 dauern, bis sich die Lage wieder normalisiert.

Da die Endmontage und die Tests der Chips heute größtenteils im Fernen Osten – vor allem in Malaysia – stattfinden, besteht außerdem noch eine gewisse Unsicherheit, da die Covid-Varianten dort noch Einfluss auf die Produktivität haben könnten.

?   Wie ist die Situation in Europa und in den europäischen Halbleiterfabriken?

!   Bianchi: Die EU-Kommission will in den nächsten zwei bis drei Jahren bis zu 145 Milliarden Euro einsetzen, um eine vollständige Halbleiter-Wertschöpfungskette aufzubauen. So sehr der Automobilsektor von der Krise betroffen war, so sehr profitieren die europäischen Halbleiterunternehmen von der Situation: Sie haben eine so hohe Kapazitätsauslastung wie nie zuvor, einen gesunden Auftragsbestand für die absehbare Zukunft und die Möglichkeit, die Preise in einem Markt zu erhöhen, in dem das Angebot den Ton angibt.

?   Was können Unternehmen tun, wenn ihr Halbleiterhersteller nicht rechtzeitig liefern kann? Welche Strategie würden Sie empfehlen?

!   Bianchi: Weltweit unterstützen Regierungen und lokale Behörden aktuell die Industrie mit Investitionsgeldern, um die Chip-Produktion im jeweils eigenen Land zu fördern. Gleichzeitig setzen Industrie und Politik auf unabhängigere sowie redundantere und damit insgesamt resilientere Lieferketten. Dies dürfte insgesamt zu einer Zunahme an Chip-Herstellern führen und dazu, dass bestehende Anbieter ihre Kapazitäten erweitern, um das Problem in Zukunft zu entschärfen. Diese Bemühungen werden durch öffentliche und private Mittel unterstützt.

Kurzfristig könnte sich die Krise jedoch dort umkehren, wo Kunden Aufträge an mehrere Lieferanten vergeben, weil sie die Versorgungssicherheit nicht einschätzen können und so den tatsächlichen Bedarf falsch darstellen, indem sie bei mehreren Quellen bestellen, um einen eigenen Chip-Mangel zu vermeiden. Diese künstliche Aufblähung der Bestellungen erhöht den Druck auf Chip-Hersteller zusätzlich, denn diesen fehlt es oft an Informationen, um ihre Auslieferungen so zu priorisieren können, dass sie den tatsächlichen, kurzfristigen Bedarf decken.

Die europäischen Halbleiterunternehmen profitieren von der Situation: Sie haben eine so hohe Kapazitätsauslastung wie nie zuvor und einen gesunden Auftragsbestand.
Christophe Bianchi, EMEA High Tech and Semiconductor Director bei Ansys:
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Second-Sourcing ist jedoch keine einfache Aufgabe: Die Vorlaufzeiten für die Chip-Produktion betragen im Durchschnitt vier Monate für Produkte, die bereits produziert werden. Eine Kapazitätserweiterung durch die Verlagerung eines Produkts an einen anderen Produktionsstandort dauert in der Regel weitere sechs Monate. Der Wechsel zu einem anderen Hersteller braucht in der Regel mehr als ein Jahr, um sich an die neuen Herstellungsverfahren anzupassen.

Die Umstellung von „just in time“ zu einem gut gefüllten Lagerbestand ist für die Automobilindustrie wahrscheinlich nicht die richtige Antwort. Um künftige Lieferengpässe zu antizipieren und sich darauf vorzubereiten, benötigen die Halbleiterindustrie und ihre Automobilkunden eine direktere Verbindung, um Angebot und Nachfrage genauer und vorhersehbarer aufeinander abzustimmen.

Die Automobilhersteller sind sich dieser kritischen Abhängigkeit in der Lieferkette bewusst und gehen bereits zu einem vertikal integrierten Modell über, das auch die Chip-Produktion einschließt, und übernehmen die direkte Verantwortung für mehrjährige Verträge mit hohen Stückzahlen, um sicherzustellen, dass es in Zukunft keine Kapazitätsengpässe gibt.

Da alle Erstausrüster schnell auf Elektrofahrzeuge umstellen, die über mehr ADAS-Funktionen verfügen und einen größeren Anteil an Halbleitern benötigen, wird der Bedarf an hohen Stückzahlen und komplexeren Chips mit fortschrittlichen Prozessknoten dazu beitragen, die globale Fertigungslandschaft für Chips mitzugestalten.

?   Welche Lehren sollten Ihrer Meinung nach aus der aktuellen Chipkrise gezogen werden?

!   Bianchi: Angesichts der Komplexität, der gegenseitigen Abhängigkeit und des hohen Kapitalaufwands, die mit der Halbleiterfertigung verbunden sind, wird das Risiko einer Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage hoch bleiben, da alle Industriezweige um die Kapazitäten der Halbleiter-Foundries konkurrieren.

Christophe Bianchi ist EMEA High Tech and Semiconductor Director bei Ansys
Christophe Bianchi ist EMEA High Tech and Semiconductor Director bei Ansys und verantwortlich für die Koordination und den Ausbau der Hightech- und Halbleiteraktivitäten von Ansys in Europa. Er arbeitet eng mit Teams weltweit zusammen und ist für ein Portfolio von Großkunden auf dem Telekommunikations- und Halbleitermarkt zuständig.
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Der Plan der Europäischen Kommission sieht zwar vor, die Produktionskapazität auf dem Kontinent bis 2030 von 10 auf 20 % zu erhöhen, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wird jedoch auch von ihrer Fähigkeit abhängen, die Rendite und den Einsatz der Ressourcen zu optimieren und eine schnelle Markteinführung zu gewährleisten.

Unabhängig davon, ob es darum geht, neue Fabriken zu errichten oder bestehende weiterzuentwickeln, müssen technische Innovationen und die Beherrschung der gesamten Wertschöpfungskette, von der Herstellung bis zur Endnutzung der Komponenten in wachstumsstarken Sektoren, kombiniert werden. Ein effektives Management der Fertigungskette für elektronische Bauteile hängt heute von der Fähigkeit ab, die zugrunde liegenden Faktoren, die sich auf das Produktions- und Leistungsniveau auswirken können, vorherzusehen und zu analysieren. Diese Faktoren sind von Natur aus sehr dynamisch – mechanische und thermische Belastung, Konnektivität usw. –, weshalb neue Techniken für die Optimierung der Produktionsabläufe unerlässlich sind. Die numerische Simulation bietet die Flexibilität und Möglichkeit, Komponenten in einer virtuellen Umgebung in Tausenden von Szenarien zu testen. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die Produkte nach ihrer Inbetriebnahme den Anforderungen an Zuverlässigkeit, Leistung und Langlebigkeit in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich gerecht werden.


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