Interview mit Andreas Mangler, Rutronik

"Lücke zwischen Wissenschaft und Ingenieurskunst schließen"

29. August 2022, 14:00 Uhr | Karin Zühlke
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Novum Research Level

Genau daran, dass Hersteller die Distribution nicht mehr adäquat bedienen – wollen –, hakt es aber doch zunehmend.

Es gibt bei amerikanischen Halbleiter-Herstellern in der Tat den klaren Trend, die Distribution umgehen zu wollen, um die Distributions-Marge selbst verbuchen zu können. Und genau bei diesen Herstellern kam es und kommt es vorwiegend zu Lieferengpässen, weil sie nicht mehr auf die Breite und Lagerhaltung ausgelegt sind. Einer aktuellen Studie von Longbow Research zufolge sind die Lager aller Distributoren weltweit genauso groß wie die Lager der EMS-Firmen. Weil diese nicht produzieren können, aufgrund einzelner fehlender Teile. Das heißt, dass wir hier ein deutliches Missverhältnis haben.

Handelt es sich bei der Rutronik-eigenen Hardware um Demo-Boards oder fertige Produkte?

Dabei handelt es sich um Evaluation Boards, also Basis-Boards mit CE-Kennzeichnung, sodass unser Kunde die Layouts übernehmen und mit diesen weiterarbeiten kann.

Unser Anybus-Modul, basierend auf dem HMS-Chipset, hat beispielsweise einen Arduino-Sockel, und darauf aufbauend haben wir weitere Boards entwickelt. Man kann beispielsweise damit sämtliche Interfaces per Software emulieren. Damit sind unsere Boards universell einsetzbar und erfüllen den Anspruch, sehr anwendungsbezogene Entwicklungen zu unterstützen. Alle Module passen auf unser Basis-Board, das RDK2 Rutronik Development Kit.

Ein echtes Novum ist aus meiner Sicht das Level 4 der Rutronik-Pyramide: das Research Level. Was genau darf der Kunde hier erwarten?

Wir arbeiten gemeinsam mit Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Universitäten Lösungen als Proof-of-Concepts aus, um Innovationspotenzial in industrielle Märkte zu tragen. Hier kombinieren wir den Stand der Wissenschaft mit dem Stand der Technik in der Industrie. Gleichzeitig arbeiten wir dabei auch ein Rutronik-eigenes IP aus und lassen dies patentieren. Flankierend dazu haben wir die Trademark AI3 definiert.
Dieses Level muss für den OEM-Kunden und/oder für den Endkunden einen Mehrwert bringen. Denn eine möglichst große Motivation, neue Dinge zu implementieren, ist für den Tier-One und Tier-Two an den Mehrwert für den OEM geknüpft, und genau an dem Punkt setzen wir an.

Rutronik
Von Design to Availability bis zur Rutronik-IP: Das Stufenmodell aus vier Leveln illustriert die Optionen, die Rutronik seinen Kunden in puncto Entwicklungsunterstützung bietet.
© Rutronik

Zum Beispiel?

Ein interessantes Beispiel ist unser hybrides Energiespeichersystem (HESS), in dem wir Lithium-Ionen-Batterien mit Super Capacitors (EDLC) kombinieren. Durch die Verbindung der jeweiligen Stärken verlängern wir die Lebensdauer der Batterie, verbessern das Temperaturverhalten der Batterie und geben der Hochstrom-Performance auch einen kleinen Batterie-Pack mit. Die Umschalt-Logik zwischen den beiden Batteriespeichern haben wir gemeinsam mit der Westsächsischen Hochschule Zwickau entwickelt. Wir möchten damit in Kürze insbesondere unseren Zweirad-Kunden, die mehr Anforderungen haben als nur reine E-Bikes, zukunftsweisende Lösungen an die Hand geben.

Ein weiteres sehr spannendes Projekt, das wir bereits patentiert haben, ist unsere Wespen-Scheuche: Wir haben dazu die Biotopologie analysiert und die sensorischen Eigenschaften der Wespe modelliert. Mit diesen Modellen können wir die Signale beeinflussen und das Stechverhalten bzw. die Annäherung an Personen oder leckere Lebensmittel bis zu 80 Prozent reduzieren.

Eine weitere Entwicklung, die unsere Experten der Automotive Business Unit (ABU) gemeinsam mit Vishay und weiteren Entwicklungspartnern realisiert haben, ist ein Batterie-Entkoppler auf SiC-Basis, mit dem sich Hochvolt-Lasten vom Hochvolt-Bordnetz trennen lassen. Bisher werden dafür Hochspannungsrelais in Fahrzeugen verbaut. Ersetzt man die Relais, lässt sich nicht nur der Kupferverbrauch reduzieren, sondern wir sind damit deutlich schneller im Trennen der Last und ermöglichen eine höhere Sicherheit.

Alle diese genannten Projekte bleiben aber für uns Proof-of-Concepts. Wir werden keine fertigen Produkte in Konkurrenz zu Kunden entwickeln, sondern möchten ihnen praktikable und schnell ein- sowie umsetzbare Lösungen für ihre Vorentwicklungsvorhaben anbieten.

Alle genannten Beispiele sind also Proof-of-Concepts und keine fertigen Produkte, mit denen Rutronik in Wettbewerb zu den Kunden tritt?

Ganz genau. Das sind alles Konzept-Studien. Wir produzieren nur Stückzahlen für die Entwicklungsabteilungen. Wir konzentrieren uns auf die einzigartige Kombination der Hardware-Komponenten, Kern-Software und Kern-Algorithmen, meist Machine Learning und andere auf Edge Intelligence basierende KI, aber nicht auf Detail-Features einer ganz spezifischen Anwendung einzelner Kunden. Es geht darum, Proof-of-Concepts zu erarbeiten, die die Lücke zwischen Wissenschaft und Industrie schließen. Ziel ist es, die Innovationskraft über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg zu steigern, nicht nur die des Tier-One und Tier-Two, sondern vor allem auch die des OEM. Wir verkürzen damit die Time to Market und unterstützen modulare Konzepte, um z. B. Sensormessung mit Sprachausgabe zu kombinieren.

Als Distributor möchten wir so schließlich durch Mehrwert überzeugen, die auf unserer Expertise in Bezug auf verschiedenste Komponenten aufbaut. Wir sind damit ein wichtiger Partner in der gesamten Lieferkette und nicht x-beliebig.

Was meinen Sie mit x-beliebig?

X-beliebig meint hier, irgendwo billig auf der Welt einzukaufen und sich nicht um einen Mehrwert für den Kunden und das Gesamtkonzept zu kümmern. Uns geht es darum, im Hinblick auf Verfügbarkeit und Logistik verlässliche Lösungen anzubieten und vor allem das Wissen weiterzugeben und zu beraten, wie die Komponenten in unserem Produktportfolio optimal zusammenspielen. Wir haben festgestellt, dass es nur wenige Lösungen für Vorentwicklungsstudien gibt, die so fein aufeinander abgestimmt sind, dass sie in der Praxis auch wirklich funktionieren.

In welchen Regionen sind die Proof-of-Concepts verfügbar?

Verfügbar sind die Proof-of-Concepts überall dort, wo es Rutronik gibt. Die Relevanz der einzelnen Proof-of-Cocepts unterscheidet sich von Region zu Region, abhängig von der jeweiligen Anwendung und dem jeweiligen Markt. VOC-Sensorik etwa, mit der man gasförmige volatile organische Stoffe wie Kohlenwasserstoffverbindungen detektieren kann, ist dort gefragt, wo Industrieanlagen als mögliche Anwendung vorhanden sind, also z. B. in Europa.

Hybride Energiespeicher für Zweiräder, Dreiräder oder Lastenräder hingegen stoßen in Südostasien, z. B. in Indonesien und Vietnam, auf reges Interesse. Der Markt ist dort in diesem Segment viel größer als hierzulande. Aber bei Lastenfahrrädern und Bring-Services werden auch hier noch größere Märkte entstehen.


  1. "Lücke zwischen Wissenschaft und Ingenieurskunst schließen"
  2. Novum Research Level
  3. "Wir verfolgen Deep-Tech-Ansatz"

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